Ein Gang durch die Hauptstraße, entlang der kleinen Läden war um 1960 herum immer eine zähe, langsame Angelegenheit. Als Kinder konnten wir unsere Nasen an den Fensterscheiben noch platt drücken. Als ob das Wünschen immer helfen konnte. Eher selten bekamen wir das von uns selbst Gewünschte. Geld war halt sehr knapp in den Kinderzeiten.
Die meisten Schaufenster eines Geschäftsladens hatte in der Unterstadt, am Anfang der Stadt, der Keilwirth. Gardinen, Möbelteile und so. Für uns Kinder also eher uninteressant. In der Stadt gab es einige kleinere Elektrikläden. Dem Keilwirth gegenüber auf der anderen Seite war der Wachter. Kassetten für den Kassettenrekorder wurden hier gekauft. Aus Chrome, um das Rauschen von der Musik weg zu bekommen. Was nicht gelang.
Zigarren-Baumann war für Zeitungen, Hefte, Comics zuständig. An Weihnachten schenkten wir dem Vater hier von uns ausgewählte Zigarillos. Viel mehr fiel uns nicht ein. Im Gegensatz zu unserem eigenen Wunschkatalog. Beim Schuh-Prößner war das Lurchiheft für uns wichtiger als die neuen Schuhe. Die ja die Eltern auswählten. Beim Vitztum hingen geschlachtete Hasen an einem Haken an der Außenwand. Die Ästhetik des Warenanbietens war hier eine sehr besondere. Bäcker Mohr mußte uns seine leckeren Amerikaner herausrücken. Metzger Hofmann speiste uns mit einem Ringel Fleischwurst ab. Damit wir still hielten. Oder wieder kamen. Beim Sutor prunkten im Schaufenster ein präpariertes kleineres Krokodil sowie eine große Schildkröte. Wie ein Ausguck in eine ferne Welt. Bei Leo Krämer stiegen wir im Ladengeschäft quasi wie auf Stufen etagenmäßig hoch, wenn wir ein paar Schulhefte, einen Radiergummi, Stift oder Griffel benötigten. Ohne in eine höhere Etage zu gelangen. Der Laden hatte als Verkaufsfläche unterschiedlich hohe Ebenen. Beim Versbach besorgten wir Baumaterial wie Nägel, Krampen für den Vater. Der Versbach verzichtete von seiner Gestaltung her auf jegliche moderne Attitude. Das Nützliche, Notwendige wurde geboten. In Kästen, Schubladen, offenen Verpackungen. Fast eine frühe Form des Aldiprinzips. Wenn der Ladeninhaber sich nicht meistens in einem einteiligen rostbraunen Graumann präsentiert hätte. Er bog noch Eisen, schnitt Eisenmatten und lieferte diese an die Büschemerischen Baustellen.
Die Durchquerung der Unterstadt, wenn auch nur die der Hauptstraße, war risikoreich. Es gab ja noch keine Fußgängerzone. Vielmehr versuchte der Autoverkehr auf Teufel komm raus durch zu kommen. Sowohl rein, als auch raus. Alle Geschäftshäuser waren mit dem Geschäftsbereich noch nicht ebenerdig zur Straße. Sondern hatten noch Treppen hoch. Die in die Straße hinein verlängert waren. Und damit Verkehrshindernisse waren. Besonders für uns junge Grundschüler, die jeden Morgen die Büschemerische Odyssee durch die Büschemerische Unterstadt zu leisten hatten. Vom Autoverkehr an die Wände gedrückt wurden.
In den 1960er Jahren zeigte sich angesichts zunehmender Motorisierung die Enge der Hauptstraße. Nach und nach verschwanden zwar viele der in die Hauptstraße vorgelagerten Freitreppen. Die Enge, die Engstellen blieben. Einbahnstraßenverkehr versuchte das zunächst zu mildern. In den 1970ern kam die Mode der Fußgängerzone. Um das innerstädtische Einkaufen attraktiv zu machen. Die Hauptstraße, der Marktplatz, Sonnenplatz und Bahnhofstraße bildeten die Geschäftszentren Tauberbischofsheims.
Bisher war die Hauptstraße die wichtigste Verkehrsachse Tauberbischofsheims. Früher gab es nur das Untere und das Obere Tor in dem Personen und Wagen in Stadt ein- und ausgelassen wurden. Tauberbischofsheim war ja Geleitstadt. Ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt auf dem Weg von Nürnberg nach Frankfurt. Insbesonderes wenn die Frankfurter Messen waren. Die großen Verkehrszüge mit Warenladungen, gleich großen Karawanen, wurden bei der Übernachtung auf dem Marktplatz untergestellt. Mainzische Geleitreiter sicherten die Warenzüge. Für diesen Verkehr, für den kleineren regionalen Handel, für die bäuerlichen Tätigkeiten und Wägelchen taugte die Hauptstrasse als Verkehrsdurchfluss. Mit der Motorisierung der Büschemer, mit mehr Autos und größeren Laster kam er ins Stocken.
Lange konnte sich die Hauptstraße als Geschäftszentrum, als Lage von kleineren inhabergeführten Läden halten. Immer mehr hatten die Inhaber, die auch oft noch selber in einem Stock über dem Ladengeschäft wohnten, ihren Laden baulich angepasst. Tiefer gelegt, damit ohne Treppe das Geschäft betreten werden konnten. Die kleinen Fenster vergrößert, damit das Warenangebot besser dargestellt werden konnte. Die Läden wurden, wenn möglich, nach hinten vergrößert. Dennoch blieb eine Beschränkung des potentiellen Warenangebotes. Früher war zudem die Kundschaft leichter zufrieden zu stellen mit dem Angebot der Geschäftsleute. Man hörte mehr auf den Rat der Geschäftsleute und kaufte das, was diese einem empfohlen. Zunehmend wurde aber durch das Fernsehen, durch Modekataloge, durch Besuche in der großstädtischen Zentren, ein Angebot an Waren bekannt, das es in den inhabergeführten Geschäften nicht gab. Die Bedürfnisse nach gehobenen Waren, die Lust auf den Warenschein, auf ästhetischere Accesoires, auf Modischeres, auf das was im Fernseher Gesehene wurde konnte immer weniger von den kleinen Geschäftsläden befriedigt werden. Die Kundschaft schaute sich immer öfters anderswo um, wurde wählerischer, blieb immer mehr weg. Die inhabergeführten Läden hatten zudem ihren Geschäftsbereich immer nur im Erdgeschoß. Das begrenzte die Verkaufsfläche und damit das Warenangebot.
In den 1970er Jahren wurde auch die untere Hauptstraße zur Fußgängerzone. Erhielt wie die obere Hauptstraße die zu großen grauen Betonplatten. Deren zu geringe Dicke immer mehr zu Brüchen führte, immer öfters fingen die Platten an zu wackeln. Mit der Wahl dieser Platten hat sich der Rat dieser Stadt keinen guten Rat gegeben. Und auch nicht gegenüber der Stadt, gegenüber dem ästhetischen Stadtbild. Betonplatten und die Fachwerkfassaden, der rote Buntsandstein des Erdgeschosses passten nie zusammen, blieben sich fremd. Haben alte Gebäude eine Patina der zusammengewachsenen Hausstrukturen, können die Betonplatten nicht altern. Sie gehen nach kurzer Zeit kaputt. Und werden dann im Gesamten ausgetauscht. So wie es aktuell in Tauberbischofsheim passiert. Das über die Jahrhunderte zusammengewachsene Stadtbild durchaus verschiedener Baustile trifft nun auf eine Komplettmodernsierung von Granitplatten, diesesmal wesentlich dickeren, etwas kleineren. Wie überall in den Kleinstädten aber auch Großstädten, die eine radikale Neuverpflasterung durchführen, ergänzen sich die Fassaden der Häuser und das neue Pflaster nicht. Stehen sich eher konträr gegenüber. Das neue Pflaster erhält keine Patina, sondern sieht nach einigem Gebrauch eher schmutzig aus. Kaugummi, Dreck hinterlassen deutliche Spuren auf dem neuen Granit.
Die Büschemer Gassenkunde, die auch eine Gossenkunde ist, also eine Suche nach den Gassen mit einer Rinne in der Mitte, eine Suche nach den ehemaligen Gassen mit Rinnenmitte, später beidseitig an den Rändern, - in der unteren Hauptstraße war die Gosse, wenn man stadteinwärts ging, links - findet in der neu gestalteten Pflasterzone der unteren Hauptstraße nun ein überraschendes neues Ebenbild. Ein planerisch gewollt ins Liebliche gewandtes Abbild. Ein viel reineres. Gesäuberteres. Denn nun fließt das nicht versickernde Regenwasser in der Gosse, in der Mittelrinne. Die ist sich heute viel zu fein, um sich Gosse zu nennen. Ist ohne den früheren Geruch. Des Abwassergestankes. Ob sich die Planer der historischen Verwandtschaft zu den alten Büschemer Gassen und Gossen klar waren? Geh doch in die Unterstadt. Dort, wo die Gassen, die Gossen sind. Könnte man in Erinnerung an Degenhardts Schmuddelkinder rufen. Die gab es neben den Gossen in Büscheme genug. Der Büschemer Gassen- und Gossenkundler ruft zusammen mit dem frühen Bob Dylan: ' "Die einzige Schönheit ist in den Ritzen der Gosse, Verborgen unter Staub und Dreck" Und ich suchte danach in jedem Loch Und stürzte mich darauf, wenn es danach roch.' (Bob Dylan, Joan Baez in Concert, Teil 2 [Begleittext], S. 203, Songtexte 1962-1985, Zweitausendeins 1988. Und Geruch gab es im alten Büscheme der Gassen und Zwischengäßchen genug.
Der Bereich um das Untere Tor herum, um den unteren Torzwinger ist heute spurenlos. Nichts erinnert mehr an die Doppelummauerung, an den Gefängnisturm. Ein Bild, nach Oechelhaueser auf 1702 datiert, nach dem Zustand der abgerissenen Stadtmauer zu schließen aber von nach 1800 stammend, zeigt den historischen Anblick des unteren Turmes. Links davon steht noch das Wachthaus, das außerhalb der Stadtmauern den Torschützen wetterunabhängigen Standschutz bot. Da der untere Turm als Gefängnis wenig Platz hatte, wurde auch der Wasserturm in der Nähe als Gefängnisraum genutzt. Die Sagensammlung mit der Nr. 114 in Zwischen Tag und Dunkel "Der Gefängnisturm" positioniert den Gefängnisturm beim Hammel. 1935 soll bei Kanalisationsarbeiten das Fundament des Turmes wieder sichtbar gewesen. Diese Arbeiten wurden vom Reichsarbeitsdienst durchgeführt. Der letzte Gefangene im Unteren Turm, ein Schneider, büxte 1838 aus und schrieb an die Wand diese Verse:
"Ade, Herr Hager, die Kost ist mir zu mager;
Drum bleib ich nicht mehr hier
Und such mir anderswo ein besseres Quartier.
Ade, Herr Hager, eure Kost ist mir zu mager,
Drum geh' ich fort,
Weil ich nicht mehr bleiben will an diesem Ort."
Und ließ sich an einem aus Leinen zusammengeknoteten Seil aus einem Fenster ab und ward in Büscheme nie mehr gesehen.
Die Bogen der alten neunbogigen Taubersteinbrücke fingen direkt am unteren Stadttor an. Wer früher dem Mühlbach in diesem selbst gehend in Richtung Hammel folgte, also in die dunkle Überbrückung und Brüstung hinein, konnte einen Teil des ersten Bogens erkennen. Am Ende der 1960er Jahre betonierte man den bei Bauarbeiten wiederentdeckten Bogen völlig zu. Deshalb spricht man auch heute noch von einer siebenbogigen alten Tauberbrücke. Statt von einer neunbogigen. Falls man überhaupt über sie spricht. Da aus dem Gedächtnis längst verschwunden. Als man im Mai 2016 bei den Arbeiten zur Neupflasterung der Fußgängerzone beim früheren Oberen Tor auf einen alten vergessenen Bogen der Brücke über den ehemaligen Stadtgraben stieß, ahmte man in historischer Parallelität das Zumachen nach. Und sorgte dafür, dass das historische Bauwerk endgültig unter der Erde, genauer unter den Pflastersteinen verschwand. Das Historische - ob Bauwerk, ob Bewußtsein - hat es in dieser Kleinstadt nicht einfach nicht unter die Erde zu geraten.