„Die Frankenthaler", ein Roman über Tauberbischofsheim von dem aus Gissigheim stammenden Schriftsteller Wilhelm Weigand.
Weigands „Frankenthaler", der „erste Heimat-Roman seiner Generation" (Wilhelm Oeftering), beschäftigt sich mit einer Kleinstadt in Franken – als Tauberbischofsheim identifizierbar - während der industriellen Modernisierungsphase der Wilhelminischen Zeit. Weigand gibt in späteren Auflagen das Jahr 1889 als Geschehenszeit an. Das ist auch das Jahr, in dem das Buch erschienen ist. Geschrieben wurde das Buch in Berlin 1888. Es ist Weigands Erstlingswerk. Die erlebten großstädtischen Erfahrungen der industriellen Umwälzungen, die Entstehung eines Proletariats, aber auch die damals aktuellen literarischen Strömungen des Naturalismus führten bei Weigand zu einer zwiespältig scheinenden Mischung aus exakt nachzeichnendem Realismus der Alltagslebewelt, aber gleichzeitig als antimodernistisch auftretende Flucht in die Heimatkultur, in ein stark betontes regionales Frankentum und in eine kaum begreifbare Überhebung der Rolle des Landadels.
Seine eigene tauber-fränkische Herkunftsregion empfand Weigand, in den Großstädten Berlin und München wohnend, als rückständig, als soziales und kulturelles Hinterland, was infolge der Provinzialisierung dieser Region nach 1800 generell zutrifft. Unsere Region war in Baden „ein desintegrierter Landesteil" (Wolfgang Seidenspinner), nicht grundlos als Badisch-Sibirien gebrandmarkt. Ihm deshalb notwendige Veränderungen und Reformen auf dem Land, in der Provinz durchzuführen, traut Weigand weder dem Bürgertum, noch den kleinen Leuten, noch dem sozialistisch-revolutionären Proletariat zu, sondern dem Landadel, der mit Mustergütern die landwirtschaftliche Produktivität steigern sollte. Weigand fühlte sich selbst, obwohl ein Bauernsohn, als „Sozialaristokrat", der sich zudem nach dem 1. Weltkrieg als „Blut-und-Boden"-Schriftsteller vielfach in einem primitiven Antisemitismus gefiel, von dem die späten überarbeiteten Auflagen des Frankenthalers nicht frei sind! Seine aus Jugenderinnerungen emotional aufgeladenen Landschaftsbeschreibungen unterliegen einer verklärenden Sprache, der Überbetonung der einheimischen Scholle und der bäuerlichen Bodenhaftung.
Wer das Buch „Die Frankenthaler" zum erstenmal in die Hand nimmt und Tauberbischofsheimer Spuren darin sucht, wird zunächst enttäuscht und wenig vertrautes darin finden. Zu beachten ist, dass das Buch von Weigand immer wieder bei Neuauflagen überarbeitet wurde und erst in den späteren Auflagen deutlich vertauberbischofsheimerisiert wurde, insbesondere durch geschichtliche Fakten, die aus Julius Berberichs Geschichte der Stadt Tauberbischofsheim von 1895 entlehnt wurden. „Die Frankenthaler" haben Weigand ein Leben lang beschäftigt! Vielfach treten die „Frankenthaler" als Kompendium regionaler Geschichtsdetails auf, die Weigand äußerst geschickt in diesem Roman bündelt, neben geschichtlichen Erfindungen und Einführungen aus Weigands schriftstellerischer Phantasie. Weigand beherrscht die Kunst des Einbaus von Zitaten, die er aber gern spielerisch verfremdet.
Frankenthal liegt in der Region „Überfranken" bzw. „Kleinfranken", auch als „Heiliges Land" bezeichnet. Das entspricht durchaus dem damals fehlenden Status einer gelungenen positiven Regionsbenamung. Begriffe wie „Badisches Frankenland", „Madonnenländchen" haben sich erst nach 1910 entwickelt. Die heutige Regionsbezeichnung Tauber-Franken war damals unbekannt. Man könnte Wilhelm Weigand dennoch als den ersten Schriftsteller Tauber-Frankens bezeichnen, da der tauber-fränkische Raum sein regionales Sujet bildet. Eine kleine geographische Bösartigkeit an Tauberbischofsheim erlaubte sich Weigand, indem er Frankenthal am Main verortete (Novelle „Der Messiaszüchter"). In der Novelle „Die Hexe" wandert Frankenthal gar in den Raum zwischen Walldürn und Mainz ab!
Frankenthal ist eine Reichsstadt (durchaus von den Laufwegen an Rothenburg o.d.T. erinnernd), Tauberbischofsheim dagegen eine Amtsstadt, die Jahrhunderte lang vom Weinanbau bestimmt war, aber den dominierenden Wirtschaftsfaktor Wein nach 1800 verloren hatte. Der kurmainzische Teil Tauberbischofsheim entfällt damit, somit auch das kurmainzische Schloss. Der Türmersturm wird dem Rathaus zugeordnet. Weigand gibt Frankenthal eine Einwohnerzahl von 12.000, also weit über der der Tauberbischofsheims zu dieser Zeit (2.585 im Jahre 1852 und 3.435 im Jahre 1900). Frankenthal ist viel weniger katholisch als Tauberbischofsheim, wenig von der Gegenreformation geprägt, das erzbischöfliche Knabenkonvikt existiert nicht.
Die modernen Seiten Tauberbischofsheims, das Amtsviertel an der Schmiederstrasse, die neuen Dienstgebäude am Sonnenplatz, in der oberen Hauptstrasse, in der Bahnhofstrasse, sind im Frankenthaler nicht entdeckbar, die Amtsgebäude, die Schulgebäude Frankenthals befinden sich im historischen Stadtkern, in alten Gebäuden. Die bauliche Moderne der Gründerzeit tritt in Frankenthal nur bescheiden auf: ein Bahnhof, im Mainbundsandstein errichtet, an einer Zweiglinie liegend; eine Papierfabrik auf der rechten Flussseite; ein Villenviertel der vornehmeren Frankenthaler. Das Behördenviertel der Gründerzeit, das den Kleinstädten - mit zentraler regionaler Bedeutung und Funktionalität - direkt in der Nähe zum alten Stadtkern liegend, vielfach in Richtung des Bahnhofes gerichtet, typisch ist, fehlt Frankenthal.
Frankenthal erscheint so weniger modern, als das wesentlich kleinere Tauberbischofsheim, das in diesen Jahren trotz fehlender Industrialisierung aufgrund der gewachsenen Behördenzentralität bevölkerungsmäßig und baulich zunahm. Tauberbischofsheim als Mittelzentrum trägt in sich das geographische Prinzip der Selbstverstärkung der behördlichen Zentralität (es setzte sich im 20. Jahrhundert gegen die ehemaligen Residenzstädte Wertheim und Bad Mergentheim als Kreissitz und Sitz wichtiger Behörden durch). Das Frankenthal Weigands ist dagegen durch Stagnation und Depression gekennzeichnet. Eine Zugehörigkeit Frankenthals zu Baden ist nicht erkennbar, vielmehr die Nähe zu Würzburg.
Die Weinbergtagelöhner, also die Häcker und das in der Papierfabrik arbeitende neue kleinstädtische Proletariat wohnen in den „schlechten" Stadtviertel, Hadmarshelle genannt, der Bischemer „Türkei" entsprechend. Frankenthal ist eine Stadt der behäbigen, kleinlich deckenden Ackerbürger, des Weinanbaus. Im Weinanbau ist Frankenthal Tauberbischofsheim sehr nahe, auch wenn der Weinbau in Tauberbischofsheim in dieser Zeit schon wesentlicher niederlag. Die ehemaligen Weinhäcker Tauberbischofsheims waren größtenteils längst in die Migration in städtische Ballungszentren wie Mannheim gegangen oder nach Amerika ausgewandert. Die Weingebiete Frankenthals liegen auf der linken Talseite, hinter dem Wald des Stöckichts, der ungefähr dem Höhberg entspricht, aber näher als dieser an der Stadt liegt. Die guten Weinberglagen Frankenthals liegen ungefähr dort, wo die heutigen Weinberge Dittigheims sind!
Die Ummauerung Frankenthals, obwohl vom Umfang wesentlich größer als der Tauberbischofsheims, wies 21 Türme auf, deren Anzahl Berberich entnommen wurde. Die Niederlegung dieser Ummauerung ist äquivalent der der Tauberbischofsheims, die Beschreibung der Reste der Stadtmauern, der Wälle, ist identisch. Die Beschreibung der landschaftlichen Gegebenheiten der rechten Talseite Frankenthals ist übereinstimmend der von Tauberbischofsheim.
Dem Türmersturm wurde in Frankenthal ein riesiger „Mohrenkopf", dessen Zunge aus- und einfuhr, dessen Augen rollten, als Turmknopf aufgesetzt. Die Frankenthaler waren als Zungenblecker berüchtigt. Franz Gehrig wies in seiner Gissigheimer Ortschronik nach, dass den alten – niedergerissenen – Gefängnisturm des Ortes solch eine „Mohrenkopfuhr" zierte! Weigand verpflanzte gern Gissigheimer Gegebenheiten nach Frankenthal! Frankenthal ist somit mehr als eine kleinstädtische Illustration Tauberbischofsheim, es ist eine historische Kulmination tauber-fränkischer Kleinstädte und Dörfer.
Im Frankenthaler Appental, geographisch das reale Appental des Steinberges (Stammberg) abbildend, aber wesentlich größer und wasserreicher, verwirklichte Weigend im Frankenthaler seine aristokratischen Wunsch- und Wahnbilder. Dort stand das nach Plänen von Balthasar Neumann erbaute Schloss Monrepos der Fürsten von Weiningen mit Lustpark, Lustfrauen, Wasserkünsten, vornehmen Gesellschaften, einem Konzert mit Beethoven. Auch Napoleon auf der Flucht aus Russland übernachtete hier. Hier in diesem adeligen Reigen ist Frankenthal dem biederen, behäbigen, seit dem Bauernkrieg völlig unter dem mainzischen Joch stehenden Tauberbischofsheim am entferntesten, dem Antimodernismus Weigands am nächsten. Frankenthal gehört wie Tauberbischofsheim vor dem Bauernkrieg zum Bund der Neun-Städte, die bürgerlich selbstbewusst ihre Ansprüche im mainzischen Oberstift einbrachten und verwirklichen wollten. Die Niederlage im Bauernkrieg bedeutete für Tauberbischofsheim über Jahrhunderte hinweg den Verlust der Selbstbestimmung und förderte mehr einen traditionierten Untertanengeist, während die Frankenthaler als Reichsstädter den Kopf höher trugen. Der Verlust des bürgerlichen Engagements in der Landschaft des kurmainzischen Oberstiftes, das Hineinregieren von Oben in kleinstädtische Angelegenheiten führte nebenbei bemerkt zur inneren Erstarrung des Oberstiftes. Bei der Neuordnung der deutschen Länder weinte keiner lange der übermorschen mainzischen Hegemonialherrschaft nach.
Der spießbürgerliche Kleingeist, die betriebene Alltagskrämerei, die Scheinheiligkeit, da ist Frankenthal voll Tauberbischofsheim seiner Zeit. Verdient macht sich Weigand in der zur Sprachebringung des Tauberfränkischen Dialekts und das noch zeitlich vor den Taubergründer Sprachstudien von Otto Heilig (Wörterbuch sowie Grammatik der ostfränkischen Mundart des Taubergrundes 1894 bzw. 1898). Der Sprachwitz der kleinen Leute ist der der Bischemer, wie er sich besonders in den Gedichten Josef Dürrs niederschlug. Weigand schaute dem Bischemer Volk aufs Maul und verewigte den Dialekt literarisch. Die eher duckmäuserische Lebenshaltung äußert sich in Antworten wie „I sog net a-sou un sog net a-sou, dass mer net soge konn, i hätt a-sou gsot oder a-sou". Ähnlich „Dr vorsichdige Doni" in einem Gedicht Josef Dürrs „Dess, dass dr Jörch ann Spitzbu iss, dess soach nid als wohr unn g’wiiß; dess aane narr, dess soach-i äuch: därr wu-mrs sejcht, demm glaaw’iss gleich!"
Ein kleines Meisterstück gelingt Weigand in der Beschreibung einer spontanen Ausschreitung des Frankenthaler Proletariats, das in dieser Form aufgrund fehlender Industrialisierung Tauberbischofsheims real gar noch nicht gab! Der „Hausier-Välte" konnte in einer schlitzohrigen Rede in einer Versammlung die Proleten zum Sturm auf das Wohnhaus des Aktionärs der Papierfabrik verführen: „… der Hausier-Välte hat mir Spaß gemacht: so muß man zu diesen Hinterwinklern sprechen: klar, grob, sinnfällig. Es leben die leeren Taschen!"
Weigand trifft haargenau das sozialdemokratische Problem mit der Provinz, mit den Kleinstädten: Die Sozialdemokratie bzw. die Kommunisten konnten keine geeignete Sprache und Programmatik entwickeln, die den Fragen des „flachen Landes", des Hinterlandes, der Kleinstädte und Dörfer entsprach. Der in der Nähe von Gerabronn aufwachsende Edwin Hoernle war einer der wenigen aus dem sozialistischen Lager, der aktiv die Landfrage aufgriff und provinzgerechte Antworten einforderte. Ob Weigand mit dem sozialistischen Wahlkandidat Wasserzieher sein Vorbild in dem aus Tauberbischofsheim stammenden SPD/USPD-Mitglied Hans Brümmer, dem späteren IG Metall-Vorsitzenden, gefunden hat? Wasserzieher gab ein Blättchen heraus, in dem er die Münchner Ereignisse und ihre Rückwirkung auf die Provinz interpretierte. Die Sozialdemokratie hätte Weigand lesen sollen und wichtige Anregungen für die Parteiarbeit in der Provinz gefunden!
In den Überarbeitungen des Frankenthalers ab 1924 übertrug Weigand seine Münchner Erfahrungen von 1918/1919, die sich in dem wüsten antisemitischen Machwerk „Die rote Flut" (im NSDAP-Eher Verlag veröffentlicht; wie Hitlers Mein Kampf!) austobten, auf die Frankenthaler, aber auch auf die beiden in den 1920er Jahren entstandenen Nachfolgebänden des Frankenthalers, „Die ewige Scholle", „Die Gärten Gottes", mit denen er Frankenthal in eine Blut-und-Boden-Triologie, in eine Volksvergemeinschaftung eingliederte, die „Volk ohne Raum"-Ideologie verkündete, zur Errichtung des „Dritten Reiches" aufrief, in dem der Landadel eine neue Rolle in der Provinz spielen sollte. Mit dem neuen Landadel als Landführer traf Weigand, der die „Hitlerbewegung" zum Beispiel im Roman „Helmhausen" begrüßte, allerdings nicht unbedingt die Intentionen der NSDAP, die sich für den ländlichen Raum zum Beispiel im „Dr.-Hellmuth-Plan zur Neuordnung des Gaues Mainfranken" manifestierten.
Wann begegnete Weigand Tauberbischofsheim? In Gissigheim aufgewachsen besuchte er nur die dörfliche Schule. Als der Gissigheimer Pfarrer Weigands sprachliche Begabungen entdeckte, unterrichtete er ihn in Latein. Mit 14 Jahren verließ er Gissigheim und ging wohl in Wertheim auf eine höhere Schule. Danach folgte ein Studium. Karl Hofmann, aus Boxberg stammend, berichtet, dass Weigand in Tauberbischofsheim sein Lehrer war. Weigand hatte wohl auch eine Lehrerstelle in Adelsheim. Der Lehrerberuf entsprach aber nicht den Plänen Weigands, den er zugunsten seiner Schriftstellerei aufgab. Weigand hatte also mindestens drei Kleinstädte intensiv durchlebt, was sich in seiner Schilderung des kleinstädtischen Alltages, in der Beschreibung z. B. des bizarren Schulkollegiums oder der hochnäsigen Beamtenschaft niederschlägt.
Die Frankenthaler erschienen in der 1. Auflage 1889 im Leipziger Verlag Elischer. Schon 1894 erschien eine Umarbeitung im Verlag Lukaschik, München. 1902 eine weitere Version im Verlag Georg Meyer, München. Wohl 1912 eine erneute Überarbeitung im renommierten Insel-Verlag, Leipzig (Eine weitere Auflage um 1919). 1924 finden sich die Frankenthaler in einer volksgemeinschaftlichen Überarbeitung wieder (Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin). 1940 erfolgt eine weitere überarbeitete Auflage im Verlag Eugen Händle, Mühlacker. Zur Wehrertüchtigung sollten wohl die Frankenthaler mit einer Veröffentlichung 1943 in der Soldatenbücherei des Oberkommandos der Wehrmacht, Band 41 (Leipzig 1943) beitragen. Die letzte leicht überarbeitete Auflage legte 1949 der Deutsche Bücher-Bund (Düsseldorf) vor. Seitdem sind die Frankenthaler ein antiquarischer Fall.
Man wird Wilhelm Weigand nicht gerecht, wenn man in ihm nur den „Blut-und-Boden"-Schriftsteller sieht. Dazu ist sei Werk zu umfangreich, zu facettenreich. Dass sein umfangreiches Schaffen nicht deckungsgleich ist, nicht als einheitliches deutbar, ist vielfach verwundert bemerkt worden. Seine Essays zu Stendhal und Balzac, seine (zuletzt 1985 im Diogenes Verlag aufgelegte) Biographie über Michel de Montaigne kommen mit einem intellektuellen Esprit und mit virtuoser Verve daher, die seinen fränkischen Heimatromanen und –novellen leider vielfach abgehen. Seine Gedichte dagegen bleiben eher trivial und konventionell, seine Dramen sind für die Bühne wenig geeignet, dienen mehr als Lesestoff als zu einer Aufführung drängend. Allerdings, aufgemerkt! Ein kritischer Geist wie Hans Magnus Enzensberger, als Herausgeber „der anderen Bibliothek" nahm noch 1992 in einer Neuauflage der „Hellen Briefe" von Ferdinando Galiani und Louise d’Epinay Weigands Einleitung und Anmerkungen mit auf, was als eindeutiger Beleg für die literarischen Qualitäten von Weigand genommen werden darf. Der Mann konnte durchaus schreiben, intellektuell parlieren, ist leider im Spätherbst seines Schaffens zu scharf rechts abgebogen. Wilhelm Weigand ist generalisierend geurteilt ein Intellektueller, der seine ausufernde schriftstellerische Quantität nicht immer mit einer notwendigen Qualität verbinden konnte!
„Die Frankenthaler" gehören zu den Regionalromanen, Kleinstadtromanen, wenn auch nicht zu den kritischen wie z. B. „Bauern, Bonzen, Bomben" von Hans Fallada oder Leonhard Franks „Ochsenfurter Männerquartett". Dennoch sollten „Die Frankenthaler", zumindest die ersten Auflagen, nicht in der tauber-fränkischen Region in Vergessenheit geraten, sondern immer wieder zu einer lesenden, interpretierenden Auseinandersetzung aufrufen. Dass Wilhelm Weigand, als einfacher Bauernsohn sich wie Münchhausen aus dem Sumpf seiner Herkunft ziehen konnte, sich zum ersten Intellektuellen Tauber-Frankens entwickelte, sollte genug Anlass sein, sich mit ihm und seinem mehr als umfangreichen Werk zu beschäftigen, auch wenn er in Alterstorheit sich selbst im braunen Sumpf versenkte, nachhaltig seinen eigenen Ruf beschädigte und damit zu seiner heutigen Vergessenheit entscheidend beitrug.
Wilhelm Weigand: Die Frankenthaler. Roman. Commissions-Verlag von B. Elischer Nachf., Leipzig 1889.
Eine etwas herbe, wenn auch interessante und sehr nützliche Überraschung bietet eine nach Jahren erfolgloser Suche nicht besonders billig erstandene 1. Auflage von Wilhelm Weigands „Die Frankenthaler“, da diese radikale Revisionen bisherigen Verständnisses dieses Buches erfordert und damit einige, wichtige Schlüsse, Wertungen und Einsichten des Rezensenten radikal entwertet. „Die Frankenthaler“ wurden von den bisherigen Interpreten – den Rezensenten eingeschlossen – von späteren überarbeiteten Auflagen her erschlossen, allerdings in der Annahme, dass die seltene 1. Auflage im Grundsatz mit späteren Auflagen übereinstimmt. Das ist falsch. Die 1. Auflage unterscheidet sich wesentlich von den späteren Überarbeitungen, in denen Tauberbischofsheim heraus destillisiert werden kann. Das ist in der ersten Auflage überhaupt nicht der Fall! Die 1. Auflage ist deutlich und weitgehend Tauberbischofsheim fremd! Hat nur geringe, eher banale Vergleichspunkte, wenig Raum für Analogien. Diese ernüchternde Erfahrung ist den wenigen anderen wichtigen regionalen Frankenthaler-Rezensenten wie Hans-Dieter Schmidt, Franz Gehrig, Heinz Bischof erspart geblieben, da hier nur die späteren Überarbeitungen Grundlage von Besprechungen waren, die 1. Auflage wohl unbekannt war.
Die erste Auflage kann als der Ur-Frankenthaler bezeichnet werden. Die 3. Auflage zeigt ein völlig anderes Kleinstadtbild, hat nur noch wenig mit der 1. Auflage gemein. Die 2. Auflage ist dem Rezensenten noch unbekannt, harrt noch der weiteren Interpretation und möglichen Revision bisheriger Standpunkte und Einsichten. Dem Ur-Frankenthaler fehlt allerdings der erstaunliche Realismus, der sich beispielsweise in der Beschreibung der Frankenthaler Unterschichten und Proleten widerspiegelt, wenn auch dieser Realismus bezeichnenderweise größtenteils ein fiktiver war, da realiter in Tauberbischofsheim so zu dieser Zeit nicht vorhanden. Dem Ur-Frankenthaler fehlt also das, was die späteren Überarbeitungen so interessant macht. Aber er spiegelt die Kleinstädte unserer Region in ihrer durchdringenden Provinzialität dennoch exakter wieder, wenn auch der soziale Brennpunkt, das proletarische Element fehlt.
Schon die dritte Zeile des 1.Kapitels zeigt die Verortung Ur-Frankenthals im Maintal: „ … Bahnhof am Rande des Mains“. Eisenbahngeschichtlich bedeutsam ist der weitere Hinweis „ … denn die Stadt lag am Ende einer Zweigbahn und hatte erst vor Kurzem den Bau der Seitenlinie erlangt.“ Das könnte auf die Maintalkleinstädte unserer Region Miltenberg und Wertheim passen. Miltenberg erhielt im November 1876 eine Eisenbahnverbindung nach Aschaffenburg und war Endstation; im November 1880 wurde der Anschluß nach Amorbach hergestellt. Wertheim erhielt etwas früher als Endpunkt der Taubertalbahn im Oktober 1868 Verbindung. Beide Bahnhöfe liegen nahe des Mains, außerhalb des alten Stadtkernes. Tauberbischofsheim liegt mal nun nicht am Main, sondern an der Tauber. Zudem war Tauberbischofsheim nie Bahnhofsstation am Ende einer Zweigbahn. Als die Taubertalbahn 1866/67 im 1. Abschnitt eröffnet wurde, war die vorläufige Endstation Hochhausen, also ein Bahnhof weiter talabwärts.
Auf Seite 3 wird eine weitere eindeutige geographische Aussage zentral zur Ortsbestimmung: „ … den welligen Höhen des Odenwaldes, die hinter der Stadt sanft anstiegen und an deren saftgrünem Abhänge weiße Villen lagen …“. Das trifft vornehmlich auf Miltenberg zu, weiter gefasst auch auf Wertheim. Die Aussage „bewaldete Höhenmassen“ spricht auch mehr für Miltenberg. Dem Bahnhof Ur-Frankenthals schlossen sich direkt Gärten an, die die Stadt umgaben. An den Gärten standen Häuser vom Anfang des 19. Jahrhunderts sowie die damals in unserer Regionen modernen Villen aus rotem Sandstein. Über eine Landstrasse kam man zu den Befestigungswerken der Stadt. Der Bahnhof Wertheim ist allerdings noch durch die Tauber von der Altstadt getrennt – ein derart auffälliger Fluss, der zur Überquerung eine Brücke trägt, wird im Ur-Frankenthaler nicht genannt. Ebensowenig findet das den Bahnhof umlagernde neue Amtsviertel eine Erwähnung. Die andere Uferseite wird als abgeflachte beschrieben, was für beide Mainkleinstädte zutreffend ist. Ur-Frankenthal liegt an einer Biegung des Mains – sowohl in Wertheim als auch in Miltenberg zu finden. Der Rücken der Stadt lehnt sich an einen Abhang eines Berges, auf dem ein Wartturm steht. Der Berg im Rücken gehört zu diesen Kleinstädten, die Wertheimer Burg und die Mildenburg werden ausgeklammert, die Wertheimer Warte ist dem gegenüberliegenden Wartberg zugeeignet. Die Kastanienallee, mit „Seufzerallee“ benahmt, passt allerdings am besten zu den Tauberbischofsheimer Anlagen, auf den ehemaligen Wällen. Einer der wenigen Bezüge im Ur-Frankenthaler zu Tauberbischofsheim. Allerdings könnten auch die Baumpflanzungen am Mainufer in Wertheim und Miltenberg als Vorbild herhalten.
Ur-Frankenthal ist eine Reichsstadt, was weder Wertheim als Sitz der Grafschaft Wertheim oder Miltenberg als kurmainzische Amtsstadt je waren. Die Gründung Frankenthals soll auf Karl den Großen zurückgehen. Der Name der Stadt taucht erstmals in „fränkischen Urkunden“ (S. 17) auf. Das Reichsstadtrecht wurde Frankenthal von einem „Kaiser aus dem Geschlecht der Hohenstaufen“ (Seite 18) verliehen. Eine alte Römerstraße führte auf dem Rücken der Berge entlang. Die Römerstrasse spricht für Miltenberg, da dort zwei römische Kastelle waren. Die Gründung Wertheims dagegen ist eine Folge des Burgbaus der Wertheimer Grafen. Eine kleine antifränkische Bosheit erlaubt sich Weigand mit den Hinweis, dass durch „Handelsverbindungen mit Heilbronn und anderen Städten auch noch Schwabenblut in die blauen Adern der Patrizier gekommen war“ (S. 18). Der Weintransport der beiden Kleinstädte über den Main zog sich aber mehr in Richtung Frankfurt bzw. Mainz. Die Reichsstadt Frankenthal wurde von den Bischöfen von Würzburg und Mainz als die großen Territorialherren unseres Raumes mehrfach bestürmt, in Konflikte gezogen. Das passt nur zu Wertheim, als Sitz einer eigenen Grafschaft, während Miltenberg kurmainzische Amtsstadt war. Weigand erwähnt noch, dass Frankenthal nahe Frankfurt ist (Seite 20), was mehr in Richtung Miltenberg tendiert.
In Ur-Frankenthal wohnen Katholiken, Protestanten und Juden friedlich nebeneinander. Am Fronleichnamstag ist die Stadt mit Blumenteppichen geschmückt. Hat Weigand mit der Aufzählung der Religionszugehörigkeit auch eine Reihenfolge der Bevölkerungsanteile widergespiegelt? Dann wäre Ur-Frankenthal katholisch bemehrheitet, also hier Miltenberg gegenüber dem überwiegend protestantischen Wertheim bevorzugend. Die protestantische Kirche Ur-Frankenthals befindet sich im östlichen Teil dieser Kleinstadt, der sich an den Abhang des nahen Bergesschmiegt. Auch der östliche Stadtteil Ur-Frankenthals wird von einem Wall mit Baumreihen umformt, was aufgrund der engen Tallage auf Wertheim keinesfalls zutrifft. Der von Weigand geschilderte Fronleichnamszug zeigt soziale Unterschiede und die Trennungen der Teilnehmer nach Geschlecht, Alter, Rangfolge. Kritisch wird bemerkt, dass alle „einen gleichmäßigen Ernst zur Schau“ trugen, „als wenn sie eine längst gewohnte Amtspflicht erfüllten“ und von „einer wirklichen Andacht weit entfernt“ schienen (Seite 8). Weigand als Intellektueller hat eine kritische Distanz zu den religiösen Traditionen unserer Region und war als ein in Berlin bzw. in München wohnender auch nicht mehr in diese eingebunden. Er konnte also intellektuelle Vorteile gegenüber den ortsansässigen Heimatkundlern, zumeist Lehrer, ausspielen. Seit der Reformation ist Frankenthal religiös gespaltet, durchaus von innerstädtischen Konflikten gezeichnet, die erst mit dem Einzug der Schweden ein Ende fanden, da hier noch eine größere Schreckenszeit begann. Der Ruf „Der Schwede kommt!“ wurde in unserer katholischen Region noch Jahrhunderte lang von den Großmüttern weitergetragen.
Ur-Frankenthal ist auch eine Kleinstadt der Hexenverbrennungen. Hexen seien fast immer geständig gewesen und auch eine der letzten Hexenprozesse soll in dieser Stadt stattgefunden haben (Seite 26). In der Novelle „Die Hexe“ hat Weigand das Thema der Hexenverbrennungen in den Mittelpunkt genommen. Frankenthal ist in dieser Novelle durchaus Miltenberg zuordenbar. In Weinbaugegenden wie dem Main-Tauber-Raum wurden Frauen ziemlich schnell als Hexen für Fröste, schlechtes Wetter, die den Traubenertrag entscheidend minimieren konnten, verantwortlich gemacht.
Spuren in der Stadt und in der baulichen Architektur hat übermäßig und schwungvoll die Zeit des Rococo gehalten, was ein letztes Aufbäumen der Reichsstadt war, denn nach den Befreiungskriegen (Napoleonische Kriege) versank Frankenthal in ein stilles Dasein (Seite 30). Gründe werden allerdings nicht genannt, warum diese kleinstädtische Reichsstadt in den Jahrzehnten der Industrialisierung und Modernisierung Deutschlands im 19. Jahrhundert zurückblieb, zur Kleinstadt, zur Pittoreske in der Provinz wurde, keine Industrie und außer dem Bahnhof und Rathaus keine weiteren Funktions- bzw. Amtsgebäude der Gründerjahre aufwies. Auch die Patrizier und „edlen Bürger“ (Seite 31) von Ur-Frankenthal lebten im19. Jahrhundert nur noch von ihrem Besitz, bauten sich Villen am Stadtrand, aber zeigen im Ur-Frankenthaler keine Initiativen, keine Maßnahmen zur Industrialisierung dieser Kleinstadt. Ur-Frankenthal war ungleichzeitig zur städtischen Entwicklung Deutschlands, nicht nur im Wirtschaftlichen, auch im Zeitgeist, in der Mode: „Zu den Eigentümlichkeiten Frankenthals gehörte es, dass der Zeitgeist immer verspätet ankam, um mindestens ein Dutzend Jahre, sodass man im Bannkreis der Stadt alte Moden, die längst ausgetragen, sehen und alte Bücher finden konnte, welche als Modeerzeugnisse Niemand mehr im Reiche las.“ (Seite 35)
Das Rathaus von Ur-Frankenthal ist dem von Tauberbischofsheim größtenteils nachgezeichnet. „Das Rathhaus war ein schönes Gebäude in gothischem Stile, aus rothen Sandsteinen erbaut, das die eine Seite des kleinen Marktplatzes einnahm und mit seinen Bogenfenstern, deren obere Fenster in buntem Farbenspiele leuchteten, ein vornehmes Aussehen hatte. Das ganze zweite Stockwerk nahm ein Saal ein, der zu allerlei Festlichkeiten diente …“ (Seite 311). Das Tauberbischofsheimer Rathaus, 1865-1867 in neugotischer Bauweise errichtet ist eindeutig das Vorbild, denn auch wegen des Baus des Ur-Frankenthaler Rathauses lag „eine Schuldenlast auf der Stadt“ (Seite 312). Den Tauberbischofsheimer Marktplatz ziert zudem eine Kapelle, die Liobakirche, die allerdings in Tauberbischofsheim die dem Rathaus gegenüberliegende Marktplatzseite einnimmt, nicht wie im Ur-Frankenthaler links vom Rathaus stand.
Das Frankenthal der 1. Auflage ist auch eine Kleinstadt des Weines, aber eher im Nebenbei. Die Bedeutung des Weinanbaus für diese Kleinstadt, die aktuelle Situation wird nicht ausgeführt. Die Weinberge liegen weiter außerhalb, an einer Biegung des Flusses, „an den breiten Abhängen gegen Norden“ (S. 173). Das kommt den Weinberglagen Wertheims, dessen Wein schon Goethe bevorzugte, entgegen. Die Tauberbischofsheimer Weinberge liegen aufgrund des aufgeweiteten Talgrundes der Tauber weiter vom Fluss entfernt.
Der Arzt Merkel ist eine Konstante in allen Auflagen und Überarbeitungen des Frankenthalers, auch wenn sich sein Name von Heinrich zu Joseph wandelte. Allerdings ist der Heinrich Merkel der 1. Auflage eher ein Mann ohne Eigenschaften, wenn man von seinem ärztlichen Hilfeethos den Menschen zu helfen absieht. Er bekennt, „dass er gar keine politischen Ansichten habe“ (Seite 55), während der Merkel der späteren Jahre voll Reformeifers der bäuerlichen Landwirtschaft ist, in späteren Überarbeitungen sich von der „Scholle“-Ideologie den Ideen von Volk ohne Raum und Herstellung einer Volksgemeinschaft nähert, als Wegbereiter des Dritten Reiches gesehen werden kann. In der 1. Auflage ist seine Herkunft verändert. Er ist Sohn eines ehemaligen Frankenthaler Amtmannes, aus Bad Mergentheim stammend, hat in Heidelberg studiert. Der Merkel der späteren Überarbeitungen stammt hingegen aus kleinen bäuerlichen Verhältnissen, kennt insofern Land und Leute, während dem Ur-Merkel das Bäuerliche völlig abgeht. Als Liebhaber kommt er allerdings wie in den späteren Auflagen nicht zum Zuge.
Die bei Weigand überbetonte Rolle des Adels ist im Ur-Frankenthaler eher noch bescheiden angelegt. Georg von Strammberg, ein Sohn eines Frankfurter Finanziers, wohnt in Frankenthal bei seiner Tante zur Selbstfindung seines zukünftigen Lebensweges. Von Strammberg ist eher episodenhaft angelegt, ohne den Landreformgedanken eines Georg von Büttners. Weigand hat sich noch nicht mit der Ideologie eines neuen Landadels vollgesogen, auch wenn aristokratische Überhebung, der Weigand unterliegt, sich auch schon in der 1. Auflage anklingt: „Die Natur braucht Jahrhunderte, bis sie einen Typus wie mich erzeugt. Alles drängt nach der Aristokratie, die ich, nebenbei bemerkt, verachte, wenn sie das Leben nicht fein gestalten kann“ (Seite 192). Georg von Strammberg nimmt den ländlichen Raum, die Bauern nur aus der Herrenreiterperspektive wahr, der zwar gern das Gespräch mit Landleuten sucht, aber mehr auf Amüsement aus ist, kein weiteres Eingehen auf die Situation der Bauern und die Veränderung, Verbesserung deren ärmlicher Lebensverhältnisse sucht.
Eine weitere Konstante in den verschiedenen Frankenthaler Überarbeitungen sind zwei Frankenthaler Patrizierfamilien, die der Vollraths und der Bemmrich, in den späteren Auflagen Gramlich getauft. Allerdings ist im Ur-Frankenthaler der Patrizier und ehemalige Weinhändler Bemmrich kein Initiator und Aktionär einer Papierfabrik, was neben den Industrialisierungsfolgen auch die sozialen Spannungen unter den Frankenthaler Proleten hervorruft. Die Unterschicht Frankenthals kommt im Ur-Frankenthaler nur am Rande, folkloristisch gezeichnet vor, kann die eigentliche soziale Bedeutung und Rolle in diesem Buch nicht tragen, die die späteren Auflagen interessant und sozial unterschiedlich brisant für eine Kleinstadt machen. Der Patrizier Bemmrich ist im Ur-Frankenthaler agil, jovial, lacht über seine eigene Scherze am meisten, versucht sein Sozialimage in Frankenthal zu steigern, beispielsweise mit Ausgrabungen von Hünengräber. Der Ur-Frankenthaler bleibt im Bereich der „besseren“ Frankenthaler, der Oberschicht, mit Musikabend, Waldfesten, Bühnenaufführungen. Der Ur-Frankenthaler bestätigt eher die in Modernisierungszeiten zurückgebliebene Kleinstadtidylle, wenn auch Kritisches einfließt, kleinere Katastrophen wie die jährliche Mainüberflutungen oder ein Hausbrand eintreten. Dennoch ist der Ur-Frankenthaler eher ein Roman ohne Botschaft, der ein Bild einer main-tauberfränkischen Kleinstadt um 1889 weichzeichnet, soziale Fragen ausklammert. Das hat Weigand in den späteren Überarbeitungen versucht, wenn auch auf immer mehr verunglückende Weise.
Wilhelm Weigand: Die Frankenthaler. Bibliothek der Romane. Insel-Verlag Leipzig, 5. Auflage (o. J., wohl 1912? Der Textvergleich räumt diese Auflage vor der 1924 aufgelegten, umgearbeiteten Version der Deutschen Buch-Gemeinschaft ein.)
Tauberbischofsheim hat mit Wilhelm Weigands Roman „Die Frankenthaler“ eine literarische Würdigung erhalten, die wie der Autor, geboren in Gissigheim, selbst in stille Vergessenheit geraten ist. Dieser Vergessenheit entgegen lohnt ein forschender Blick in das 1889 als Weigands Erstlingswerk erschienene Buch, um näher zu betrachten, wie viel Tauberbischofsheim steckt eigentlich in diesem Werk, was lässt sich wieder erkennen, was für ein kleinstädtisches Leben wird beschrieben, was für eine Philosophie der Tauberbischofsheimer wird erzählt? Zu beachten ist, dass Weigand seinen Roman nicht mit „Frankenthal“ betitelt, sondern „Die Frankenthaler“ in den Fokus rückt, also nicht die Stadt, die kleinstädtische, sondern die Bewohner, die Einwohner, die Kleinstädter selbst, die Frankenthaler, also die Tauberbischofsheimer, die Bischofsheimer, die Bischemer. Also ein Buch über die Menschen dieser Kleinstadt, ein Buch über die Tauberbischofsheimer an sich, was für sich genommen einen ungeheuren Reiz darstellt, diesem Wesen, dessen Wesen, näher zu kommen, die Weigandsche Typologie der Tauberbischofsheimer in den Frankenthalern zu entdecken. Die Rezension hier folgt dem Text der Version in der 5. Auflage. Nur gelegentlich werden Hinweise auf die veränderte „vervolksgemeinschaftlichen“ Version hier eingearbeitet. Die vom Autor überarbeitete Version wird in den Schlussbemerkungen besprochen.
Schon im ersten Blick gerät der geschichtlich geübte Tauberbischofsheimer Blick ins schwere Schleudern, dann das Frankenthal Weigands wird als ehemalige Reichsstadt beschrieben. Soweit hat es Tauberbischofsheim nie gebracht, war viel weniger über Jahrhunderte ein kleiner kurmainzischer Amtssitz, deren Amtskeller und Vögte den Tauberbischofsheimern streng hineinregierten. Die Stadt lag also an der kurz gehaltenen Kette des fernen Mainz. Der nicht erfolgreich gestaltbare Bauern- und Bürgerkrieg 1525 erforderte von Tauberbischofsheim nicht nur den Verlust seiner Geschütze, sondern beendete alle in den letzten Jahrhunderten im Mainzer Oberstift im Bund der Neun Städte durchgesetzten Privilegien und Freiheiten durch die 1527 von Bischof Albrecht II erlassene Stadt-Reformation. Das war keine Reformation von selbstständigen Reichsstädten, sondern eine knüppelharte Restauration landesherrlicher Rechte: Die Stadt Tauberbischofsheim wurde wieder in den Landesteil ohne jegliche Sonderrechte integriert, der von Tauberbischofsheim forcierte Neun-Städte-Bund funktionslos. Statt eines freien reichsstädtischen Geistes wie in Rothenburg und Hall, indem städtische Patrizier und eigene städtische Verwaltung von Befugnissen die Geschicke bestimmten, waren dem bürgerlichen Selbstbewußtsein Tauberbischofsheims enge Grenzen gesetzt.
Vielleicht kommt auch daher die merkwürdige Verehrung und nahezu anmaßende Überhöhung der kurmainzischen Amtsburg als „Schloss“ in der Tauberbischofsheimer Erinnerung an vergangene Herrschaften? 1803 stellte die Tauberbischofsheimer Stadtverwaltung ein Verzeichnis der öffentlichen Gebäude für die Fürstlich-Leiningische Regierung in Amorbach zusammen, in dem „ein herrschaftliches Schloss“ erwähnt wird. Schon hier tritt die Bezeichnung „Schloss“ für die Amtsburg auf! Brauchen die Tauberbischofsheimer unbedingt ein Schloss in ihrem Stadtbereich, um sich selbst für vergangene Demütigungen und Beschneidungen der Versuche von bürgerlicher Eigenständigkeit zu entschädigen und sich selbst als Residenzstadt einer Herrschaft zu erhöhen? Nicht ganz, auch die kurmainzische Herrschaft bezeichnete die Burg gern als Schloß und den Platz davor als Burgplatz, aber die hierarchisch höchste Person darin als Burgmann, z. B. im Huldigungsschreiben von Erzbischof Dieter II. vom 5. März 1482. Also: Die Tauberbischofsheimer Burg wird gemeinlich als Schloß bezeichnet, obwohl es als Herr des Schlosses einen Burgherrn hatte, der ein Amtmann war, wenn auch öfters adeliger Herkunft. Ein Schloß, ohne einen entsprechenden Herrscher, der in dem Schloß thronen bzw. residieren würde, ohne die Funktion eines Schlosses und wie leicht ersichtlich auch ohne das Aussehen eines Schlosses. Genau genommen nicht einmal eine Burg, falls man zu einer Burg ein Ritter- oder ein sonstiges Adelsgeschlecht zuordnen will. Im Grunde genommen eine verschachtelte Anordnung von Amtsgebäuden, in der kurmainzische Bürokraten der Stadt Tauberbischofsheim hineinregierten. Die heutige Anlage soll sich aus einer kleineren mittelalterlichen Wasserburg heraus entwickelt haben, wobei die heute erkennbaren Türme bzw. Turmanbauten den äußeren Umfang der ehemaligen Wasserburg wiedergegeben. Mit Umbauten, Abrissen, Erweiterungen, Neubauten entstand die heutige wesentlich größere Ansammlung des kurmainzischen Gebäudekomplexes. Für Weigands Frankenthaler war die Frage Schloss oder Burg gar keine Frage, denn im Frankenthaler gibt es innerhalb der Stadt weder Schloss noch Burg. Ein Schloss lässt Weigand, der sich als bauernsöhnlicher, bodengebundener Sozialaristokrat fühlte, im Appenthal auf Frankenthaler Gemarkung neu auferstehen.
Wenn in Weigands Roman Tauberbischofsheim zur freien Reichsstadt wurde, dann ist die kurmainzische Amtsburg verzichtbar und sie wird konsequenterweise weggelassen und auch nicht erwähnt. Wie für freie Reichsstädte üblich, die nicht nur auf ihr ummauertes Stadtgebiet beschränkt waren, gönnt Weigand Frankenthal ein Herrschaftsgebiet, das er als wenig umfangreich und mit wenigen Getreide anbauenden Dörflein ausweist. Hier lässt sich mehr die Rothenburger Landwehr erkennen, die von ackerbaulichen Dörfern dominiert war. In der realen Tauberbischofsheimer Umgebung dominierte allerdings der Weinanbau, zudem war Tauberbischofsheim Teil des Oberstiftes Kurmainz, also einem Herrschaftsgebiet untergeordnet! Frankenthal selbst wird von Weigand als eine Stadt der Reben und des Weintrinkens gekennzeichnet, allerdings im Niedergang, sodaß das Ackerbürgerliche bei den einfachen Einwohnern vortritt.
Das reale Tauberbischofsheim fährt der Weigandschen Zuschreibung in die Parade, dass die inneren Auseinandersetzungen und die Einführung einer Art demokratischer Verfassung einen speziellen originalen Menschentyp dieser Kleinstadt gefördert hätten. Die historische Dominanz spricht eher für die Förderung einer duckmäuserischen Kleinbürgerlichkeit, die bei Weigand auch immer wieder als typisches Wesenszeichen der Frankenthaler gemeinen Einwohner angesprochen wird.
Frankenthal ist wie schon im Namen vorweggenommen in einem Tal an einem Fluss gebettet, der allerdings nie benannt wird. Die breite Aufweitung des Talgrundes entspricht der Tauberbischofsheimer Lage. Als Nachbarorte Frankenthals werden das kurmainzische Städtchen Bilzheim genannt, das allerdings in einem Seitental des Flusses zu liegen scheint, sowie am selben Fluss wie Frankenthal ist der Ort Rothenberg zu finden. Bilzheim wird als zugehörig zum Neun-Städte-Bund beschrieben. Aus verschiedenen, aber leider nicht vollständig kongruent nachvollziehbaren Wegbegehungen und Fahrten Weigandscher Romanpersonen und einigen geographischen Zuschreibungen lässt sich das Brehmbachtal erkennen. Bilzheim könnte den Standort Königheim einnehmen, Külsheim als weiteres Mitglied im Neun-Städte-Bund liegt den Weigandschen Weg- und Zeitangaben zuweit entfernt und liegt zudem auf der Anhöhe. Bilzheim kann sowohl ohne Ansteigungen als auch über eine Höhe erreicht werden. Das entspricht den Möglichkeiten von Tauberbischofsheim durch das Brehmbachtal als auch über den Stammweg und durch den schmalen Pfad im Appental nach Königheim zu kommen. Weigand bleibt bei seiner Topographie der Region um Frankenthal herum eventuell auch bewusst ungenau oder er hatte keinen genauen Masterplan einer Frankenthaler Topographie. Auch der Brehmbach findet keine namentliche Erwähnung bei Weigand, stattdessen werden der Erfbach und das Appental als Standort des Schlosses Monrepos genannt. Weigand führt in der Frankenthaler Nachbarschaft des Appental gelegen mehrfach auch den auf der Tauberbischofsheimer Gemarkung existierenden Steinberg, der nach 1900 zum Stammberg mutierte, als Weinberg an. Auch der Hof Birkenfeld, in einer Anhöhe liegend, wird hier von Weigand verortet. Die Gissigheimer Herkunft Weigands könnte diese wichtige landschaftliche hervortretende Achse im Roman gezielt angeordnet haben, indem Weigand sich die Topographie seines Romans räumlich Gissigheim näherte, ohne allerdings den Ort zu erwähnen, um ihm geistig mit seinem Geburtsort zu veredlen. Mit dem Dorf Rothenberg wird ein am selben Fluss wie Frankenthal zu verortendes Dorf Ort genannt, der etwas oberhalb Frankenthals zu finden ist, denn bei der Flut schwammen auch Rothenberger Gegenstände an Frankenthal vorbei. Die realen Nachbarorte von Tauberbischofsheim wie Dittigheim, Distelhausen, Impfingen, Dittwar, Königheim, Hochhausen und Großrinderfeld werden nicht aufgeführt. Auf der rechten Flussseite schließen sich ackergäuliche Dörfer des Getreideanbaus an. Mit dem kleinen nachbarschaftlich gelegenen Bilzheim trifft ein realer Teil Tauberbischofsheims auf Frankenthal. Rothenberg erinnert stark an Rothenburg und wir gehen sicherlich nicht fehl in der Annahme, dass der reichsstädtische Anteil Frankenthals Rothenburg entliehen wurde. Frankenthal erscheint als eine teilweise Mischung Rothenburgs mit Tauberbischofsheim, das wunderbare, einmalige Stadtbilds Rothenburg ob der Tauber bleibt allerdings Frankenthal aufgrund seiner Tauberbischofsheimer Tallage versagt. Damit liegt Frankenthal nicht wie Rothenburg ob der Tauber auf einem Hügel überschwemmungsfrei, sondern ist wie Tauberbischofsheim dem vorbei fließenden Fluß nahe und dem Hochwasser teilweise, zumindest in der Unterstadt ausgeliefert. Das eher bescheidene Tauberbischofsheim wird als Frankenthal geschichtlich aufgewertet, z.B. als Reichsstadt, als Stadt in der Patrizier die Geschicke bestimmen, aber auch das geographische Stadtgebilde wird mit verwinkelten Gassen und Vierteln vergrößert. Im realen Tauberbischofsheim war man schon nach wenigen Schritten an der Stadtmauer angelegt, während manche der Weigandschen Protagonisten im Stadtbild Frankenthals umherschreiten, als gäbe es unbekannte Winkel und Weiten innerhalb des Stadtgefüges.
Beibehalten wurde im Frankenthal Weigands der Türmersturm, allerdings nicht als Teil einer Amtsburg, sondern als Teil des Rathauses, als Rathausturm. Die historisierende Neugotik des Tauberbischofsheimer Rathaus, 1865 anstelle eines zierlichen Baus getreten, wird bis auf das Material aus Sandstein von Weigand verneint, Frankenthal hat ein barockes Rathaus, indem allerdings nicht die reichsstädtische Großartigkeit der Rothenburger Rathausanlage zu entdecken ist. Dem Frankenthaler Rathaus werden Rathausbögen zugewidmet, die an Anlage des Tauberbischofsheimer Rathausneubaus erinnern. Auf das reichsstädtische S. P. Q. F., Senatus populusque Frankenthalensis, eingemeißelt über dem Portal des Frankenthaler Rathauses muß beim Tauberbischofsheimer verzichtet werden, das nur das leicht rätselhaft bleibende B B B aufweist: Bischof – Bischofsheim – Bonifatius? Böse Bischemer Buwe? Die Taubertaleisenbahn schrumpft zu einer Zweigbahn, also zu einer von einer Hauptstrecke abgehenden Stichbahn, wie die kümmerliche eisenbahnliche Anbindung Rothenburgs tatsächlich stattfindet, während Tauberbischofsheim einer durchgehenden Eisenbahnstrecke Station bietet. Die landschaftsverändernde Begradigung der Tauber mit entsprechender Dammbildung wird von Weigand negiert, die Stadt Frankenthal, die Unterstadt Frankenthals bleibt von Überschwemmungen des Flusses bedroht. Die Papierfabrik, der Anbruch der Industrialisierung in Frankenthal, wird direkt am rechten Flussufer angesiedelt, während im realen Tauberbischofsheim niemals eine Fabrik am rechten Ufer stand und auch bis heute noch nicht steht. Die Stadtmauern Frankenthals sind wie beim echten Tauberbischofsheim bis auf wenige Reste niedergelegt, dagegen sind noch im Frankenthal einige weitere Stadttürme erhalten geblieben, z. B. ein Wachturm. Entlang der ehemaligen Stadtbefestigung ziehen auf dem Wall Kastanienalleen die Spaziergänger an, das entspricht dem damaligen Zustand Tauberbischofsheims, wie ihn Alfred Schmid Noerr als Kreislauf des Bischofsheimer Lebens poetisierte: „De Growe rüm un d’ Schodt ro.“ Eine kleine Einschränkung ist allerdings anzuführen: Entlang der Tauberbischofsheimer Schmiederstraße, auf dem ehemaligen Nordwall, wurde eine Lindenallee angelegt. Frankenthal lässt sich wie Tauberbischofsheim in eine Unter- und Oberstadt aufteilen. Die Gassen der Unterstadt werden vielfältiger verworren aufgeführt als real vorhanden. Zudem wird von Weigand das Arme-Leute-Viertel Hadmarshelle, von der Schilderung der Lage dem Bereich des Fischgässchens / der Eichstrasse entsprechend, auf die andere Seite der Hauptstraße in Richtung Frauenstraße verlegt. Die heutige Frauenstrasse hieß früher Armengasse bzw. auch arme Gasse. Wie der Name es ausdrückt, war es die Gasse der Armen, der Besitzlosen, der Häcker ohne eigenen Grundbesitz. Der Verfasser dieser Zeilen bekennt auch seine familiäre Herkunft aus dieser über Arme Geschichten reichen Gasse. Große Teile der Unterstadt links und rechts neben der Hauptstrasse waren Viertel der Armen. Weigand hat die durch die untere Hauptstraße getrennten Viertel der Bischemer Armen in ein Viertel Frankenthals synthetisiert und ihm die Ansicht der verbliebenen Stadtmauernreste Tauberbischofsheims hinzuaddiert, spendiert: Arme Leute, kleine Häuschen, schöne Ansicht. Die Hadmarshelle Frankenthals spiegelt den Tauberbischofsheimer Gewannnamen „Hadermannshelle“ wieder, dem vermeintlichen Standort einer nicht belegbaren Raubritterburg des Ritters Hadumar auf dem Brenner. Das heute noch bekannt-berüchtigste Arme-Leute-Viertel Tauberbischofsheim wurde als Dörgei bezeichnet, von alten Bischemern wurde ein noch ärmlicheres (fiktives) Stadtviertel als die Dörgei scherzhafterweise als Walachei benannt. Die Hadmarshelle Frankenthals im liegt im Überschwemmungsbereich des Flusses, muß also im unteren Teil der Stadt in Flussnähe zu finden sein. Mehrfach wird die Gerbergasse erwähnt, die in Tauberbischofsheim eine namentliche Entsprechung besitzt. Der Marktplatz entspricht als Viereck dem realen Eindruck vom Tauberbischofsheimer Marktplatz, der mit leichten, oft übersehenen Krümmungslinien die harte Geometrie eines Vierecks unterläuft. Den den Frankenthaler Marktplatz schmückenden Röhrenbrunnen sowie weitere Frankenthaler Brunnen vermissen wir heutzutage im Tauberbischofsheimer Kleinstadtraum. Auf älteren Photos des Tauberbischofsheimer Rathausneubaus ist er noch zu sehen, als das Marktplatzkreuz mit zwei Bäumen begleitend bepflanzt wurde, entfiel wohl der Marktplatzbrunnen. Das Stammhaus der Patrizierfamilie Gramlich lässt sich leicht mit dem barocken Prachthaus des früheren Weinhändlers Bögner erkennen, Gramlich selbst ist ja neben dem Apothekerberuf auch noch Weinhändler. Das stattliche Stammhaus der Gramlichs hat Valtin Gramlich allerdings an Beamte vermietet und sich im neuen Villenviertel Frankenthals niedergelassen. Nach den Wegbeschreibungen ist das Villenviertel im Taubst (Taubenhaus) anzusiedlen, direkt am Grabenweg gelegen. Ein derartiges Villenviertel kann im realen Tauberbischofsheim nicht entsprechend gefunden werden, allenfalls dünne Häuserreihen entlang den Wallanlagen. Frankenthal bleibt fast vollkommen von jedem Bezug zur Gründerzeit verschont. Neben dem Villenviertel, das dieser Epoche zuordenbar ist, dem Bahnhof und der Fabrik fehlen alle sonstigen Hinweise auf entsprechende Neubauten der Gründerepoche! Das Gefängnis ist ein alter Turm, das Gerichtsgebäude ist im alten Kornhaus von Frankenthal untergebracht, das Rathaus stammt aus dem Barock, Post, Sparkassen bzw. weitere Behörden werden nicht genannt! Auch Wohnblöcke der Gründerzeit, in denen Beamte oder Arbeiter zur Miete wohnen, entsagen sich dem Frankenthaler Stadt- und Viertelbild. Die Gründerzeit, ein fast völliger Ausfall bei Weigand! Ignoranz? Die zugezogenen Arbeiter wohnen allesamt in der alten Kernstadt. Frankenthal ist eine alte Stadt ohne die Erweiterungszonen der Gründerzeit! Weigand lässt Frankenthal im „Laufe des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts“ in die „idyllische Ruhe einer behäbigen Kleinstadt“ absinken. Ein „Kranz von wohlgepflegten Gärten“ und „Villen in allen möglichen Stilarten unter alten Bäumen versteckt“ liegend, umgibt die Stadt entlang der nur noch in Resten erhaltenen Stadtmauer, mit Übergängen zu Wiesen, Äckern, Weinbergen, also der landwirtschaftlich genutzten Flur. Die gründerzeitlich bebaute Vorstadt des 19. Jahrhunderts ist in Frankenthal nicht einmal ansatzweise vorhanden, ebenso die im 19. Jahrhundert übliche Ansiedlung von Amtsneubauten in halboffener bzw. offener Bebauung, meistens entlang der Straße zum Bahnhof, ist in Frankenthal nicht zu beobachten. Damit sind die für Mittelstädte, selbst für wenig entwickelte Kleinstädte, typischen baulichen Erweiterungen des 19. Jahrhunderts, nicht existent. Frankenthal verbleibt trotz Abrisses innerhalb der Stadtmauern, ist streng ackerbürgerlich, kleingartenbürgerlich. Die Fabrik, auf der anderen Seite des Flusses erbaut, ist ein echter Solitär in der Landschaft, dem die industriegesellschaftlichen Aus- und Nachwirkungen auf das Stadtbild fehlen, die zugezogenen Arbeiter nehmen ihre Wohnung in den ärmlichen Stadtviertel, eine wohnbauliche Wirkung durch Neubauten ist ausgeblieben.
Weigand montiert auch viele nebensächlichere Tauberbischofsheimer Begebenheiten in seinen Frankenthaler ein, die ziemlich verfremdet und auch damit beziehungsloser werden. 1806, zurzeit der französischen Neugliederung Deutschlands, wurde ein französischer Soldat in Tauberbischofsheim niedergeschossen. Ein Lilienwappen auf einem Bildstock, das dem Wappen der französischen Könige ähnelte, soll die Stadt vor der Zerstörung bewahrt haben. Weigand nimmt dieses Histörchen auf und wandelt dieses so um, dass ein Frankenthaler Büchsenmacher einen Amtsschreiber niederschoss und darauf von den Franzosen der Stadtsäckel Frankenthals konfisziert wurde.
Mit der Familie Gramlich, den alterwürdigen Patriziern, den heimlichen, offenen Herrschern Frankenthals, tritt uns eine Entleihung aus der Rothenburger Geschichte entgegen. Heinrich Toppler ist der Veit Gramlich Frankenthals, beide Nachkommen von Bauern, die zugezogen waren und beide Begründer der jeweiligen kleinstädtischen Traditionen im frühen, erst angefangenen 15. Jahrhundert. Rothenburg, Tauberbischofsheim und Frankenthal haben den Zug zum Bauernkrieg gemeinsam, denn mit der Reformation zog innerbürgerlicher Streit ein. Tauberbischofsheim und Rothenburg lieferten im Bauernkrieg mauerbrechige Geschütze, Bischofsheim zuerst und erhielt es wie Wiegands Frankenthal nach der Schlacht von Königshofen am 2. Juni 1525 niemals mehr zurück. Bilzheim übernimmt für Tauberbischofsheim die Rolle, dem Taubertaler Haufen unter Florian Geyer die Stadttore geöffnet zu haben. Es gab ja auch nur zwei.
Die prächtige Turmuhr auf dem Türmersturm von Frankenthal, in der ein riesiger Mohrenkopf eine blutrote Zunge ausstreckte, hat Tauberbischofsheim nie, erst recht nicht in einer solchen Höhe, zu der die Bevölkerung hinaufblicken musste, besessen. Ebensowenig den Spitznamen als Zungenlecker, die ihre Zunge der restlichen Welt in besonderer Verachtung entgegenstreckten. Am La-Roche-Haus am Marktplatz, dem üppigen Fratzenkopfhaus, ist über dem Eingangsportal ein Zungenblecker zu entdecken, der als Vorbild dienen könnte. Bei einem Bummel mit einer Nichte über den Tauberbischofsheimer Marktplatz bemerkte diese auf Nachfrage, was ihr zum Zungenblecker einfiele, dass im heimatkundlichen Unterricht geäußert wurde, dass früher der Zungenblecker keine steinige, sondern eine herausziehbare metallene Zunge besessen habe! Das heimatkundliche Grundschulwissen käme dem Weigandschen Zungenlecker weit entgegen! Tauberbischofsheimer sind Kröten, also Quäker, die sich aufblasen müssen und nur bei Krötenwanderungen ihr Soziotop verlassen. Buchen mit seinem Arschblecker kommt der Frankenthaler Zeichen- und Zungensprache regional gesehen am nächsten. Die Tauberbischofsheimer sind von ihrem Spitznamen her wenig veranlasst, der Welt etwas zu zeigen, zu geben. Ein Krötengequake hört nur der nächste, also die Einwohner selbst. Ein Krötenkonzert verlässt niemals den einheimischen Horizont, kann allerhöchstens nur ein Durchreisender mithören. Das mundartlich ausgesprochene „Kroit“ klingt alles eher liebenswürdig als beschimpfend.
Die Aufklärung über die Herkunft, den Herkunftsort des wunderbaren Zungenbleckers, der der Welt die Zunge zeigt, liefert der auf seine Art bei geschichtlichen Datierungen äußerst penible Heimatkundler Franz Gehrig, ein letztes Exponat der Reihe katholischer Priester, die auch unfehlbare Ortschronisten, hier von Gissigheim, wurden. Der ehemalige Gissigheimer Gefängnisturm nahe des Gissigheimer Rathaus, ca. 1610 erbaut, leider nach 1850 abgerissen, wies den Zungenblecker auf: „An der Uhr ist noch das besondere Merkzeichen von Gissigheim, nämlich der sogenannte Zungenblecker, ein Mannskopf, der beständig die Augen verdreht und die Zunge aus- und eingehen lässt.“ (Beschreibung der Schul-Rosine, ca. vor 1900, aus: Franz Gehrig, Gissigheim. Ortschronik aus dem Badischen Frankenland. Herausgegeben von der Gemeinde Gissigheim. Gissigheim 1969, Seite 55.
Im seiner Geburtsgemeinde Gissigheim geschenkten Festspiel „Der Engel“ (bisher ungedruckt!) weist Weigand selbst auf die Herkunft des Zungenbleckers aus seiner Heimatgemeinde Gissigheim (Gissi) hin: „Altbürgermeister Lorenz Leimbach sah als Kind noch den Zungenblecker im Besitz seines Vaters. Heute wäre der Turm mit dem Glockentürmchen und der Zungenleckeruhr eine sehenswerte Verschönerung unseres Dorfes. Unser Dichter Weigand hat ihn wenigstens in seinen Werken verewigt, im Roman ‚Die Frankenthaler’ versetzt er den ‚Zungenrecker’ in die Stadt Frankenthal, im ‚Schutzengelspiel’ lässt er den Diener Itterlein seinem Hauptmann in Ungarn voll Stolz erzählen: ‚Da steht beim Dorfplatz ein Turm, in den wir unsere Langfinger, Diebe und Mörder stecken, wenn wir sie erwischen. In dem Turm da unten ist ein Quellchen; wenn das Wasser nicht täglich geschöpft wird, steigt es ein Stockwerk höher. Wer muß das Schöpfen besorgen, wenn keiner ersaufen will? Die Herren Langfinger selbst. So erziehen wir Gissemer die Leut zur Arbeitsamkeit. Doch das Schönste kommt noch: Auf den Turm da haben unsere Voreltern einen Mohrenkopf gesetzt. Der ist ein Teil der Turmuhr. Geht der Pendel rechts, reckt er die rote Zunge raus, und geht er nach links, zieht er sie ein …’“ (Aus: Franz Gehrig, Gissigheim. Ortschronik aus dem Badischen Frankenland. Herausgegeben von der Gemeinde Gissigheim. Gissigheim 1969, Seite 57.)
Kultur, Parklandschaft, Wasserkünste, Lusthäuser, Geliebte ließ Weigand in dem Frankenthal nahen Lustschloß Monrepos einziehen und einen Abglanz auf Frankenthal abstrahlen. Der Romantiker Weigand verklärt damit wohl seinen eigenen Gissigheimer Herkunftsbereich zum Ort romantischer Wandlungen, denn Weigand bezog sich in seinem Dichter- und Schriftstellerdenken neben der heimischen fränkischen Scholle auf die französische Romantik. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ließ ein fränkischer Kirchenfürst, da würde in erster Linie der Würzburger Fürstbischof in Frage kommen, aus dem reichsständischen Geschlechte der Herren von Weiningen, das wohl entlehnt von Leiningen, die erst mit und nach Napoleon hier in dieser Region einrückten, in der Nähe Frankenthals im wasserreichen Appental, allerdings noch auf der städtischen Frankenthaler Gemarkung, das Lustschloß Monrepos errichten. Ungeklärt ist allerdings im Frankenthaler, ob er dies als Fürst, als Bischof oder als Fürstbischof vollzog. Jedenfalls gab es männliche Nachkommen des fürstlichen Geschlechts. R. W. Fassbinder gönnt in seinem Film der Niklashauser Fart dem Bischof ausreichend Lustknaben, die sein Lustschloß bevölkern und da Weigand dem fürstbischöflichen Lustschloß schönste Frauen, Obersthofmeisterinnen genannt, zuschreibt, wird sich Weigand schon was Lustvolles dabei gedacht haben. Er beschreibt den fränkischen Kirchenfürst als zeitgemäßen Seelenhirten, der die Gesellschaft von milden geistlichen Würdenträgern und von schönen Frauen in Monrepos verlebte. Da wird sich schon eine fürstliche Nachfolgerschaft eingestellt haben. Nach 1803 gehörte Tauberbischofsheim für kurze Zeit zu Leiningen, bevor es zu Baden kam. Indem das Schloss auf städtischer Flur lag, waren die zugezogenen Fürsten von Weiningen auch Frankenthaler, wenn auch außerhalb der Stadtmauern. Die Tauberbischofsheimer Schlossherrlichkeit, die keine war, sondern nur eine banale Amtskellerei, Amtsvogterei, erhob sich also als externer, aber dennoch als städtischer Fixpunkt, als kulturelles geistiges Eldorado als Mischung aus Weikersheimer Schloss und Park, aus dem württembergischen Monrepos bei Ludwigsburg und aus geliehenem fürstbischöflich würzburgischen Schlösserglanz, z. B. Veitshöchheim. Das Gewann Appenthal, das auf der Tauberbischofsheimer Gemarkung auf der Ostseite des Stammberges (früher Steinberg wie von Weigand hier benannt) liegt, verwandelt sich auf der Frankenthaler Gemarkung in einen romantischen Ort der Lüste, der Muße, der philosophischen Ergötzung, religiöser Aufklärung und Liberalität. Erbaut wurde das unhistorische Lustschloß nach Plänen von Johann Balthasar Neumann, der in Würzburger Diensten stand. Mit Monrepos zog ein neuer Geist in Frankenthal ein, die Häuser wurden stattlicher, die Frauen erblühten, die Geldbeutel der Frankenthaler füllten sich, der Geist der Frankenthaler wirkte befreiter. Insgesamt ein kleinstädtischer Spätherbst einer kurzfristigen Blüte, eine goldene Zeit Frankenthals, wenn auch aus externen, unreichsstädtischen Bewegungen, nahezu ein Abglanz hohenlohischer Schlossgründerei und Residenzbautätigkeit, die fast jeden größeren Ort Hohenlohes schlössisch ausstattete. Bis mit Napoleon das Ende dieser Prosperität Frankenthals kam, was der geschichtlichen Blüte des Weinanbaus und des Weinhandels in Tauberbischofsheimer 18. Jahrhundert sowie dem schnell darauf folgenden endgültigen Niedergang des Weinbaus, dem einzigen Wachstumstreibers Bischofsheim, entspricht, der Beginn einer Jahrhunderte langen Provinzialisierung mit der Eingliederung nach Baden als weit entferntes Hinterland. Weigand lässt hier allerdings größtenteils offen, welche Wirkungen Mediatisierung und Säkularisierung auf Frankenthal hatten, wir erfahren nicht wie die Funktion der Reichsstadt als eigenes Territorium, als eigenes Herrschaftsgebiet endete bis auf den Hinweis, dass die Frankenthaler entsandte Beamten des kurzfristig von Napoleon errichtetem Großherzogtums Würzburg gewaltsam vertrieben haben, was wohl eine kurzzeitige französische Besetzung sowie den Verlust der Stadtkasse Frankenthal zur Folge hatte. Frankenthal wurde also wohl Teil (wenn auch wohl nur kurzfristig) eines Würzburgischen Territoriums (eventuell entsprechend dem kurzen leiningischen Intermezzo!) und nicht zum badischen Hinterland, nicht zum Badischen Sibirien, nicht zur ethnographischen Exklave im äußersten Nordosten des Großherzogtums Baden, wie es Wilhelm Heinrich Riehl formulierte. Das badische Hinterland war ein „desintegrierter Landesteil“ (vgl. Wolfgang Seidenspinner, Die Erfindung des Madonnenländlichens) der Nichtprosperität. Frankenthal ähnelt hier mehr dem Ende der Reichsstadt Rothenburg, die in einer neuern Grenzlage Bayern zugeschlagen wurde. Weigand lässt Frankenthal und Tauberbischofsheim parallel niedergehen und übergehen in kleinbürgerliche, ackerbürgerliche Behäbigkeit.
Die 1866 um Tauberbischofsheim stattgefundene Schlacht zwischen Preußen, Badenern und Württembergern wird kurz in der Hinsicht erwähnt, dass auch dieses Gemetzel die tiefe Ruhe der Bürgerschaft nicht auf Dauer stören konnte, warum hätte es auch? Eine echte Ruhestörung der Bürgerschaft Tauberbischofsheim lässt Weigand im Frankenthaler entfallen! Der badische Kirchenkonflikt von 1853/54, der das „Heilige Land“, also Madonnenländchen und Taubergrund in eine Art „Heiliger Krieg“ verwickelte, in dem die katholischen Pfarrer - auch der von Tauberbischofsheim - reihenweise in den Gefängnissen interniert wurden, in dem dem Tauberbischofsheimer Bürgermeister Steinam von der Kanzel der Stadtkirche aus die Exkommunikation verkündet wurde und in dem mehrere Tausend Mann Soldaten im badischen heiligen Hinterland einrückten, um die staatliche Ordnung und Herrschaft wiederherzustellen, wird von Weigand im Frankenthaler nicht aufgenommen, da Weigand sich nicht auf Baden als Oberherrschaft Frankenthals fixiert hatte. Frankenthal und Tauberbischofsheim legten die enge Bürde der Stadtmauern bis auf wenige Reste nieder, während Rothenburg seine 1945 von Amerikanern teilweise flach gemachten Stadtmauern flugs wieder mittelalterlicher als vorher aufbaute. Das Frankenthal Weigands ist um bzw. nach 1880 angesiedelt, ob es zu Bayern oder Baden gehört bleibt unklar, wenngleich die Orientierung von Frankenthaler Aktivitäten in Richtung Würzburg auftritt. Frankenthal liegt im reichsdeutschen Land, die territoriale Zerstückelung Deutschlands ist überwunden, insofern sind 48er Bestrebungen auf regressive monarchistische Weise zur Vereinigung gebracht. Der nationale Aufbruch, der Zug der Industrialisierung – bis auf den Bau der Papierfabrik - gehen an Frankenthal, wie die modernen Verkehrsströme und Schienen vorbei, Frankenthal befindet sich am Abstellgleich, bzw. am unbedeutenden Nebengleis der Entwicklung und Geschichte.
Weigands Frankenthaler bieten einige Stichworte zur Soziologie, Philosophie und Typologie der Frankenthaler und ihres Wesens. Die Frankenthaler unterscheiden sich und die restliche Welt durch die Geburt in Frankenthal und als Frankenthaler. Nur wer in Frankenthal geboren ist, ist auch ein Frankenthaler. Danach kann es nur noch einen Abklatsch geben wie den Zugezogenen, die Eingeheirateten. Die können machen und sich geben wie und was sie wollen, es reicht nur zum Duldungsfrankenthaler. Der Makel der Nichtgeburt als Frankenthaler gilt innerhalb des Frankenthaler Weichbildes als hartes Ausschlusskriterium. Wer nicht von hier ist, ist von dort, also nicht von hier! Ein wahrer, ein echter Frankenthaler an und für sich ist weder von dort, noch von da, sondern von hier! Mußfrankenthaler sind Betroffene aus dem kleinen Potential gebildeter, ausgebildeter Menschen, die als Lehrer und Beamte von oben nach unten in Frankenthal in ihre Amtsausübung eingesetzt wurden. Zynismus, Ausstreuen von Bildungszitaten, steter hoher Alkoholkonsum, Versuche sich beruflich zu profilieren, Exempel zu statuieren und sich für eine räumliche Fortentwicklung zu empfehlen, kennzeichnen diese unechte klein gehaltene Frankenthaler Bevölkerungsgruppe. Überfrankenthaler heben sich weit über die Masse der Frankenthaler heraus. Somit ist diese Gruppe personell beschränkt auf die Gruppe von Patrizier, da es in Tauberbischofsheim keine wahren Patrizier gab, auf die Patrizierersatzgruppe der Weinhändler, der einzigen wirklichen reichen Tauberbischofsheimer. Die Erzfrankenthaler sind dagegen Einheimische der Arme-Leute-Viertel, die sich zwar durch einen gewissen proletarischen Witz auszeichnen, aber teilweise von einem ungewissen halbkriminellen Dunkel umgeben sind. Die Frankenthaler halten auch viel darauf, dass jeder das wird und bleibt, was aus dem nach ihrer Ansicht feststehendem Herkunftscharakter entsprach. Neue, andere Wege zu gehen war unerhört und genügend Stoff zum Tratschen. Egal was und ob was aus einem Frankenthaler geworden ist im Laufe der Zeit, in Frankenthal stirbt man als Frankenthaler und wird als solcher begraben.
Der Frankenthaler Witz kommt, aber er kommt meistens spät, oft zu spät, besonders wenn der Witz außerhalb der eigenen Stadtmauern, gegenüber Fremden, Städtern erzählt wird. Mit der Stadtmauer im Rücken steht der Frankenthaler sicher, dann klappt die Pointe, zündet die herausgepresste Gemeinheit, auf fremdem Terrain geht mancher Frankenthaler Schuß daneben. Der gute Frankenthaler Witz ist ein echter Bischemer Witz und Spruch. Bekannte beispielsweise ein Frankenthaler, der in der Papierfabrik auf dem rechten Flussufer arbeitete in einer durch Alkoholausschank stimulierten Versammlung: „I hob a Mark verdient im Tog“, so kam aus dem Saal die rasche Antwort: „Und zwoa versoffe.“ Anstatt auf gewerkschaftliche Argumentationsweisen einzuschwenken, dass der tägliche Lohn zu gering sei, die körperlichen Reproduktionskosten mit einem Verdienst von 2 Mark zu gewährleisten, wurde im gewerkschaftsfernen Witz der Frankenthaler der Arbeiter in ein Missverhältnis von Aufwand und Ertrag eingefügt und bloßgestellt und das in einem leicht nachvollziehbaren mathematisch präzisen Verhältnis. Leichtfüßig unterläuft der Frankenthaler Witz Gottes Allmächtigkeit: „Un von dir waß der Herrgott net, wer dei Votter is.“ Solange es ein Frankenthaler war, war er immer noch von hier und nicht von dort. Ein gut platzierter Frankenthaler Witz hat einen Arme-Leute-Background. Über die Witze der reichen Frankenthaler lacht zuerst der Witze erzählende reiche Frankenthaler, oft auch nur dieser. Der Witz der reichen Frankenthaler versucht sich auf ein übergeordnetes Niveau zu heben, nimmt allerdings seine Lokalität mit und stellt sich damit allgemeinem sofortigen Verständnis und Lacherfolg entgegen.
Läßt sich den Frankenthalern ein seltsamer Humor, der lokale Quellen hat, zuschreiben, so äußert sich das allgemeine Wesen der Frankenthaler als eigentümliches. Die geistige Prosperitätsphase Frankenthals war längst erloschen und um 1880 herum zu einem philisterhaftem Spießbürgertum abgesunken. Spitzweg hätte in Frankenthal ausreichend Motive gefunden. Das nach 1800 aufgrund ausgebliebener wirtschaftlicher Entwicklung und infolge des weinbaulichen Niedergangs dominierende ackerbürgerliche Erscheinungsbild der Frankenthaler erzeugte ein wenig schmeichelhaftes Image einer behäbigen, wenig Fortschritt interessierten Kleinstadt in einer idyllischen Ruhe. Das Neue wird furchtsam beäugt und meistens abgelehnt. Den Frankenthaler Stadtbauern werden dieselben Augen wie ihre Ochsen zugeschrieben, der Kopf der Frankenthaler Ackerbürger als Mostschädel, ihre Wesenszüge als bieder duckmäuserisch bloßgestellt. Philosophisch neigten die Frankenthaler zur Mehrfach-Synthese: In jedem Frankenthaler steckte neben einem kleinbürgerlichen Epikureer ein heimlicher Hegelianer, der trotz seines alltäglichen Schimpfens auf Alles und Jedes, alles Wirkliche für vernünftig hielt, also pure Realisten, die im blanken Dasein ihr Sein haben. Von altersher waren die Frankenthaler säuerliche Halbplatoniker gewesen, deren Geschmackssinn nach einer nie erreichten, nie erreichbaren Weinqualität als Maßstab der Messbarkeit der tatsächlichen Ernten orientiert war. Eindeutige Stellungnahmen waren wegen den Drei-Philosophen-Denkweisen der Frankenthaler von einem Frankenthaler selten erwartbar. Klar formulierte Fragen wurden mit dem Frankenthaler Axiom: „I sog net a-sou un sog net a-sou, dass mer net soge konn ich hätt a-sou gsot oder a-sou“ behandelt und außer Gefecht gesetzt. In Tauberbischofsheim wurde gern aber noch dieser Antwort hinzugefügt, wenn ein anderer so oder so sagen würde, könnte man selbst so oder so eventuell vielleicht schon zustimmen.
Dem allzu kräftig auftretenden Katholizismus Tauberbischofsheims gibt Weigand manchen kleinen Tritt. Indem Frankenthal Reichsstadt ist, ist auch mehr Platz für den Protestantismus vorhanden, als es zu Zeiten Tauberbischofsheims im katholisch kurmainzischen Oberstift und in der Nachfolge in Baden üblich war. Die Statistik zeigt für Tauberbischofsheim im Jahre 1825 2250 Katholiken, 15 Protestanten und 100 Juden. Die jüdische Seite blendet Weigand in seinen Erstauflagen des Frankenthalers noch völlig aus. In späteren Buchveröffentlichungen nimmt Weigand unverblümt eine antisemitische Stellung ein: „Ich selbst war schon in meiner Jugend auf die Auswirkungen jüdischen Wuchergeistes aufmerksam geworden: in meiner Heimat, im Tauberland, gab es zahlreiche Gemeinden, die jüdischen Wucherern hörig waren.“ (Welt und Weg, Aus meinem Leben, Bonn 1940). Die Versuche Tauberbischofsheims, mit dem Bauernkrieg auf die evangelische Seite zu treten, waren mit der Niederlage und der Unterwerfung nach dem Bauernkrieg beendet, während in Frankenthal wie in anderen Reichsstädten weiterhin ein innerstädtischer religiöser Zwist zwischen katholisch Altgläubigen und neu Reformierten herrschte. Die katholischen Frankenthaler sind leicht anhand ihrer Vorliebe für Namen wie Fabian, Damian, Kilian erkennbar. Der katholische Dekan machte in seiner Predigt regelmäßig den Frankenthalern die Hölle heiß. Umso schöner genossen die katholischen Frankenthaler das Ende des sonntäglichen Gottesdienstes und erfüllten den Frankenthaler Sonntag mit einem genießerischen Leben. Die Ermahnung des protestantischen Stadtpfarrers Ostertag, der nach der Überflutung der Fabrik bei der Versammlung zu den Arbeitern eine einleitende Rede sprach, ging am Bedürfnis der Arbeiter glatt vorbei. Die ärmsten Glieder der Frankenthaler Gemeinde waren nicht bereit den Worten des Pastors so zu folgen, dass wer gerade die Hand des Herrn zu fühlen bekommen habe, sein Schicksal so zu tragen habe, dass es zum allgemeinen Wohle ausfalle. Beim Bittbesuch Georg von Büttner beim Pastor Ostertag, sich für den Inhaftierten einzusetzen, verweigerte sich dieser dem Ansinnen, da Joseph Merkel katholisch sei. Ein typisch Tauberfränkischer, Bauländer, Odenwälder Werdegang von Bauernsöhnen ist der Schulweg von Joseph Merkel. Ein Pfarrer, auf seine Begabung und Intelligenz aufmerksam geworden, konnte den Vater überreden, ihm aus seinem vorgezeichneten Schicksal als Bauer, Tagelöhner, Knecht zu entlassen und ihn auf das Gymnasium gehen zu lassen, um Pfarrer zu werden. Die katholische Kirche Badens bezog ihren Nachwuchs zum großen Teil über diesen Weg. Allerdings lässt Weigand die Brutstätte dieser Aufzucht, das Tauberbischofsheimer Konvikt aus seinem Frankenthaler herausfallen. Noch so ein feiner Tritt Weigands in Richtung katholischer Kirche. Zunächst siedelte sich das Knaben-Konvikt in der Hauptstraße neben der Mariahilf-Kapelle an, teilweise während des Kulturkampfes in Baden aufgehoben, ab 1883 von Julius Berberich, dem Verfasser der ersten Tauberbischofsheim Stadtchronik, im selben Gebäude wieder neu gegründet und in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts dann am Fuße des Stammberges im roten Sandsteinbau der Gründerzeitarchitektur. In Tauberbischofsheim galten die Gymnasiumsschüler, die im Konvikt gesammelt und instruiert wurden, als Studenten, allerdings als durchaus verdächtige. Josef Dürr hat ihnen einige Zeilen gewidmet: „De ganze Doach do dünn sie nix / Als rache und busiere / Do sieht mr si mit souere Schicks / Amm Höhberch rümmspaziere.“ Da der Katholizismus als geistiges Fundament Tauberbischofsheim im Frankenthaler herausfällt, gibt es im Frankenthaler auch keinen Widerhall der altsprachlichen, Jungmänner dominierten „Studentenwelt“ des Konvikts. Schade drum. Auch der Reichstagsabgeordnete für den Frankenthaler Wahlbezirk war ein Pfarrer, und Joseph Merkel wohl auch sein Nachfolger.
Eine Besonderheit nach Valtin Gramlich sind die Frankenthaler Frauen. Es findet sich die (Gramliche) Ansicht, dass eine Weingegend andere Frauen hervorbringt als eine Biergegend, und damit Frankenthal als Stadt des Rebenanbaus und des Weinhandels andere Frauen als andere Regionen hat. Der Frankenthaler trinkt schließlich an sechs Tagen Wein und nur Sonntags wird der Bierkrug in die Hand genommen. Der Wein Tauberbischofsheims, besonders der Genuß des Tauberbischofsheimer Weines durch die Tauberbischofsheimer wurde von der Mainzer Herrschaft als Stimulans von Unruhen wie dem Bauernkrieg verdächtigt, die Stadtreform vom 1527, vom Mainzer Bischof diktiert, verbot „das Zutrinken, davon gemeinlich alle Laster und ubel entstehet, bey ernstlicher straff und peen…“. Der Würzburgische Chronist Lorenz Fries konnte auch nicht richtig beurteilen, ob 1525 ein Bauernkrieg oder ein Weinkrieg stattfand. In Tauberbischofsheim finden sich zudem erste Ansätze des heutigen modernen Flatrategedankes: Das Trinken von Wein wurde nicht mit der Menge sondern mit der aufgewendeten Zeit abgerechnet. Mit dem Niedergang des Weinanbaus dürfte auch ein Niedergang der Besonderheiten der Frankenthaler Frauen einhergegangen sein. Nicht ganz den literarischen Stil Gertrude Steins traf eine Frankenthalerin bei einer Antwort auf die Frage der Bedeutung eines Kusses: „Ein Kuß ist ein Kuß!“ Mit einem „Ein Kuß ist ein Kuß ist ein Kuß“ wäre Frankenthal ein Platz in der Literaturgeschichte eröffnet worden. Die Frankenthalerinnische Antwort nimmt jegliche literarische Tiefe heraus. Der Überfrankenthaler Gramlich folgert daraus: „… über gewisse Dinge redet man in Frankenthal nicht. Man tut sie, aber man beschreit sie nicht, außer wenn andere sie tun.“ Zwei Frauen Frankenthals treten als Vertreterinnen der Arme-Leute-Fraktion Frankenthals besonders auf. Georg von Büttner begegnet bei seinem ersten Besuch der Papierfabrik der dort arbeitenden Simmeles-Appel, eigentlicher Geburtsname Apollonia Mahlknecht. Der kleinstädtisch-proletarische Blick der Simmeles-Appel war für Georg von Büttner Frage, erotische Verlockung und Erinnerung zugleich. Bei seinem täglichen Fabrikrundgang bezog er immer den Arbeitsplatz dieser Frankenthalerin mit ein, - bis zu derer Entlassung. Die Mutter der Simmeles-Appel galt in ihrer Jugend als die „liederlichste Dirne Frankenthals“. Die Vorurteile und Urteile gegenüber der Mutter hatten sich auch auf die Tochter übertragen, das kollektive Gedächtnis Frankenthals ließ keinen Ausbruch aus der vorbestimmten Rolle zu. Die alte Mahlknecht galt zudem als die Schwertgosch Frankenthals, die neben dem Kleinstadtklatsch derbe Scherze auf Kosten anderer in der Stadt herumtrug. Mehrere uneheliche Kinder brachten ihr eine Ermahnung des Stadtpfarrers ein, auf ihren Lebenswandel zu achten. Angesichts ihrer drei unehelichen Kinder gab sie dem Gottesmann zur Antwort „Hochwürden, mit drei Rädern fährt kein Wagen!“ und trug damit zu dem Geschichtenschatz Frankenthals bei, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Auch die Tochter bekam ein uneheliches Kind, Gerüchte wollten Georg von Büttner als Vater wissen. Die Schilderungen der beiden Frauen dürften lebensecht aus der Bischemer Arme-Leute-Schicht entnommen sein, während uns im Bild der Marie Vollrath mehr Weigands Wunsch- und Sehnsuchtsbild einer Frankenthalerin begegnet. Als besonderes Gewächs unter den Frankenthaler Frauen tritt im Roman Marie Vollrath auf, die von Doktor Merkel und von Georg von Büttner begehrt wird. In Marie Vollrath verbinden sich uralte Frankenthaler Familientradition und Weinbergsbesitz mit ihrer „walschen“ Herkunft, denn ihre Mutter stammte aus Südtirol. Obwohl nicht zu den ärmsten Frankenthaler gehörend, erscheint Marie Vollrath immer wieder in der Hadmarshelle, um bei Schwierigkeiten, Streitereien und Auseinandersetzungen einzugreifen und zu helfen. Marie Vollrath, die erste Streetworkerin Frankenthals, die zudem gern Bücher von Stifter liest!
Tauberbischofsheim als Stadt des Weinanbaus hatte in ihren Mauern über die Jahrhunderte weg ein ärmliches Proletariat der Weinhäcker, besonders derjenigen ohne eigenen Grundbesitz, besessen. Die Weinhäcker sind Tagelöhner, die in den Weinbergen der Weinbergsbesitzer arbeiteten. Auch von einem Zuzug von Saisonarbeitern, die in den Weinbergen zum Einsatz kamen, ist auszugehen. Die Häcker wohnten in der Unterstadt Tauberbischofsheims. In der Armen Gasse, auch Armgasse genannt, heute Frauenstraße wohnten die ärmsten der Häcker. Im Frankenthaler wird oft diese Situation des kleinstädtischen Proletariats aufgegriffen, z. B. in Reden von Valtin Gramlich, Bankier von Büttner, von Doktor Merkel. Im Frankenthaler wird allerdings noch die Situation von verarmten Ackerbauern aus dem Gäu einbezogen, die nach Frankenthal ziehen, um dort in der Papierfabrik zu arbeiten. Insofern ergibt sich eine neue proletarische Schicht Frankenthals, die aus der alten traditionsbestimmten Schicht der Häcker kommt und das neu entstehende, vom eigenen Herkunftsort entwurzelte Proletariat verarmter Bauernsöhne und – töchter, die in der Stadt, in der Fabrik eine Arbeit suchen und aufnehmen. In einer Reflektion des Fabrikmitbegründers und Frankenthaler Patriziers Valtin Gramlich wird der Status der eingeborenen, kleinbürgerlichen Ackerbauern, die neben der Fabrikarbeit noch ein wenig eigenen Grund, auch Weinbergsbesitz haben, gelobt. Die Löhne waren gering, aber ein Arbeiterbauer, der noch an seine Scholle gebunden ist, und damit eine weitere Einnahmequelle hat und seine Reproduktionskosten niedrig halten kann, ist wenig querulantisch, wenig revolutionär, wenig sozialdemokratisch veranlagt. Wie es von Büttner ausdrückt: „… das Menschenmaterial ist billig. Diese kleinen Getreidebäuerlein sind in gewisser Hinsicht ideale Arbeiter.“ Dagegen ist das neue zugezogene Proletariat für die eigentlichen Herren der Stadt Frankenthal ein Gefährliches. Valtin Gramlich beobachtet „ein heranwachsendes Geschlecht proletarischen Geschmeißes“ in Frankenthal, das in der Hadmarshelle wohnt. Uneheliche Kinder, lichtscheues Gesindel, rote Gesinnung sind für Gramlich die Merkmale des Frankenthaler Schandflecks, den er selber vermied zu durchschreiten. Die Hadmarshelle wird als Gewirr von schmutzigen Gässchen, mit Flusskieseln nur spärlich befestigt, die in einen kleinen Platz münden, mit kleinen wackeligen, sich nieder duckenden Häuschen, mit miefigen Armeleutegeruch, und der altersgrauen Stadtmauer im Hintergrund beschrieben. In der Tat waren die Gassen der Tauberbischofsheimer Unterstadt Jahrhunderte lang nicht gepflastert, sondern mit Flusskieseln belegt. Bei einigen Besuchen Georg von Büttners in der Hadmarshelle ergeben sich weitere Einblicke in das Leben, in die Lebens- und Wohnverhältnisse des Frankenthaler Kleinstadtproletariats, die recht drastisch und realistisch bischmerisch geschildert werden. In vielen Gedichten von Josef Dürr wird das Leben des kleinstädtischen Proletariats Tauberbischofsheims wiedergegeben, wenn auch ohne sozialkritische Schärfe. Zeichnungen und Holzschnitte von Hugo Pahl stellen die zusammengesunkenen Häuschen dieser Proletarier verniedlichend dar. Der Idylle des Anblicks entsprach keine Idylle der Lebensverhältnisse. Heute hat in Tauberbischofsheim die Flächensanierung einen großen Teil dieser Stadtgeschichte platt planiert und damit zu einer nicht mehr erlebbaren Historie gemacht. Im Fotoband von Josef Heer, Liebes Heimatstädtchen Tauberbischofsheim (1981 erschienen) kann in vielen Fotos der ackerbürgerliche Charakter Tauberbischofsheims, der sich im Frankenthal Weigands wiederspiegelt, nachgespürt werden, auch das bescheidene Leben in den armen Gassen bleibt nicht unbelichtet.
Doktor Joseph Merkel, aus Boxberg aus landwirtschaftlichen Verhältnissen stammend, der Vater ein Schuldenbauer, sich um den Sohn wenig kümmernd, erinnert in seinem Verhalten und Habitus den Provinzlern, die aus dem Schicksal der Herkunft sich quasi am eigenen Schopf aus dem provinziellen Sumpf herausziehen (wollen). Im Kopf entstehen größere Gedanken als es das durch den Mund Artikulierbare vermitteln lässt. Den Gedanken entsprechen nur selten die Äußerungen, die durch Schüchternheit, Nervosität, Verlegenheit wenig gelingen wollen. Gegenüber den Söhnen der Reichen, der Adligen, von Pfarrern, die viel leichter vokal parlieren können, sind die Söhne der armen Provinzler, die die Provinz in ihnen überwinden wollen, unterlegen. Geist, Körper, Aussehen, Hände, Kleidung, Verhalten passen nicht zusammen. Immer wieder tritt das Grobe, einfache, dennoch Schwierige der eigenen, nicht bewältigten Kindheit, zu tage. Das Gedenken an die bäuerliche Herkunft, an die ländliche Abstimmung schmerzen, die guten Erinnerungen stammen zudem auch aus der Welt, aus der man eigentlich entrinnen will. Der aus der Provinz, aus den einfachen Verhältnissen sich Herausentwickelnde ist nicht der Typ des Smalltalkers, des Reden Könnens in jeder Situation, wie das gebildete Kreise leicht vormachen können. Fürs Geschwätz ist wenig bei dem Platz, der ausgreifende Gedanken und Pläne hat. Wer sich aus der eigenen Provinz-Herkunft erhebt, wird missverstanden, nicht verstanden, kann sich nicht verständlich machen. Man kennt die Pappenheimer, und sie ihn, aber man kommt nicht mehr zusammen, da man dem voraussehbaren Schicksal ein Schnippchen schlagen will und damit anders als die Provinzler wird. Auch das Zusammentreffen mit interessanten Frauen gelingt selten. Doktor Joseph Merkel zieht gegenüber Georg von Büttner, dem Sohn eines Würzburger Bankiers, dessen Vorfahren aus der Frankenthaler Umgebung stammen, den kürzeren beim Versuch sich Marie Vollrath, der Tochter aus einer uralten Frankenthaler Familie, zu nähern. Immer kommt Joseph Merkel zu spät, verhält sich zu grüblerisch, zu wenig wagend, in Gedanken verloren, den richtigen Augenblick verpassend. Joseph Merkel, ein echter Gelegenheitsverpasser.
Joseph Merkels Thema und Ideenwelt ist die Lage der einfachen Bauern, die vom Verlust ihrer Ertragsmöglichkeiten bedroht sind. Für Merkel gehört Mensch und Boden zusammen. Nur wer Boden hat, hat den Kontakt zur Natur. Nur wer Boden hat, kann den Boden bebauen. Für Bodenspekulanten hat Merkel nichts übrig, genauso für Absichten, für Schulden Wälder kahl schlagen zu lassen. Joseph Merkel ist kein Stadtmensch, er atmet mit der Natur, riecht den Duft der Landschaft, fühlt sich in der Erdschwere wohl. Joseph Merkel gibt sich nicht mit der Situation der nieder liegenden Landwirtschaft um Frankenthal herum zufrieden. Auf von ihm einberufenen Versammlungen versucht er die Bauern zu mobilisieren, für Genossenschafts- und Kreditkassengründungen zu organisieren, neue Anbauformen aufzunehmen, z. B. den Obstanbau zu forcieren. Joseph Merkel findet allerdings bei den kaum auf Neues angelegten Bauern wenig Anklang, was ihn zunehmend frustriert und selbstzweiflerisch werden lässt, warum es ihm als Sohn des Hinterlandes nicht möglich ist, mit den Hinterländlern in Aktion zu kommen. Diese Versuche von Agrarreformen entsprechen realen Bemühungen, die Lage der Bauern und der Bewirtschaftungsformen in der Zeit eines langen Niederganges und einer langen Lethargie im Tauberfränkischen zu verbessern. Joseph Merkel ist der bodenständige, allerdings zu tief in den Boden sich eingrabende Philosoph der Scholle Frankenthals.
Bei der wegen der Überschwemmung der Papierfabrik veranstalteten Zusammenkunft der Fabrikarbeiter versucht Merkel eine Rede über seine bäurische Vorstellungen zu halten, verpasst aber auch hier seinen Einsatz und Ansatz, verliert sich im Akademischen, für die versammelten Arbeiterbauern nicht Verständlichen. Er wird auf dem Gasthaussaalpodium von einem Frankenthaler, dem Hausier-Välte klar ausgestochen. Der Hausier-Välte ist ein Landagitator, wie ihn die Sozialdemokratie auf dem Land nie oder kaum besessen hat. Anhand des Beispiels seiner leeren Hosentaschen und der Frage, in welchen Taschen das durch die Arbeitertätigkeit geschaffte Kapital hinfließt, gelingt es dem Hausier-Välte die Massen zur spontanen Ausschreitung gegen den Initiator der Fabrik, Valtin Gramlich, zu bringen. Allerdings hat die Rede von Hausier-Välte keinen programmatischen Ansatz, wie er bei sozialdemokratischen Agitatoren herauszuhören wäre. In späteren überarbeiteten Ausgaben wird die Rede von Hausier-Välte, der nun zu einem Gramlich wird, zu einer verwandtschaftlichten Racheaktion. Merkel kann den Arbeitern nur noch hinter her eilen, statt sie zu führen und steht letztendlich als blosser Anstifter der Massen im zerstörten Haus Gramlichs, dessen Weinkeller bei der Spontanaktion den Kehlen der Proletarier guten flüssigen Stoff abgab, da und wird deswegen im Frankenthaler Gefängnisturm eingebuchtet. Die Frankenthaler Proletenausschreitung scheint den 1848er Unterschüpfer Krawallen gegen jüdische Häuser und Familien entlehnt zu sein.
Dabei wird der antisemitische Hintergrund ausgeblendet und durch die neuen Kapitalisten wie Valtin Gramlich ersetzt. Der eingebunkerte Joseph Merkel ließ sich einige sozialistische Schriften zusenden, deren Studium ihn graute, denn das marxistische Denken in Formeln, die den Mehrwert erklären, war ihm ein völlig Fremdes, der Natur, seiner bäuerlichen Herkunft völlig Entfremdetes, Formelhaftes, Erstarrtes. Das kann wohl auch als der Selbstversuch Weigands bewertet werden, seinen Weg durch das Studium von Schriften und Denkern zu gehen, die er dann selbst ablehnte. In späteren Ausgaben strich Weigand diese Stellen, er hatte hier seine philosophische Festigkeit in Blut und Boden gefunden. In den ersten Ausgaben bleibt Weigand bei der Verteidigungsrede Joseph Merkel sehr kurz gehalten, in den späteren Ausgaben führt er den Anfang der Rede an, die sich schnell seinem Lieblingsthema, wie sich das Bauerntum in der Industrialisierungsphase erneuern, erhalten kann, nähert. Merkel ist hier der ganze Weigand!
Doktor Merkel wird nach dem Prozeß gegen ihn als „Wühler“ und angeblichem Beteiligten und Anführer der Ausschreitungen mit einem erfolgten Freispruch für ihn zum Kandidaten für den Reichstag berufen. Im Wahlkreis Wertheim-Tauberbischofsheim gab es für die badischen Reichstagsitze nur die aussichtsreiche Kandidatur für das „Zentrum“ und die „Nationalliberalen“, die Kandidaten in den Reichstag bringen konnten. Die Sozialdemokratie spielte in dieser proletenarmen Region keine Rolle. Für welche Partei Doktor Merkel kandidierte wird nicht explizit ausgesagt, aber er nimmt die Stelle des bisherigen Reichstagsabgeordneten ein, d. h. es kann eine Kandidatur im „Zentrum“ oder bei den „Nationalliberalen“ gewesen sein, wenn wir für Frankenthal und Tauberbischofsheim gleiche politische Strukturen voraussetzen. Vielleicht ist auch, da der bisherige Reichstagsabgeordnete Frankenthals ein Pfarrer war, der radikale 1848er Geistliche Karl Damm als Vertreter des Kreises Tauberbischofsheim in der Frankfurter Nationalversammlung das Vorbild dieses Abgeordneten? Mit dem Vorwurf des „Wühlers“ nimmt Weigand ganz direkten Bezug auf einen anderen aus Gissigheim nach Tauberbischofsheim Zugezogenen: auf Josef Zugelder, einem richtigen 1848er, einem räsonierenden auch lautstarkem Original, der in Tauberbischofsheim weltbekannte Verhinderer eines drohenden Abrisses des Türmersturms, der in einer Versammlung, in dem der katholisch-konservative Redner Josef Buß die „Wühlerei“ angriff, dem Redner entgegen donnerte: „Auch ich bin ein Wühler, ich rechne es mir zur Ehre an, ein Wühler zu sein!“ Zugelder ein Wühler, Merkel ein Wühler, Zugelder ein Gissigheimer, Weigand ein Gissigheimer! Bei dieser Wühlerei und Gissigheimerei wird leicht klar, dass Weigand sich im Doktor Merkel teilweise biographisch wiedergab! Die Beschreibungen der Lebensgeschichte Merkels, seiner verschränkten Persönlichkeit aus bäuerlicher Herkunft und eines aus der Bäuerlichkeit heraustretenden Akademikertums, seine Ziele und Beschreibungen, Bauern und Boden zusammenzuhalten, zusammenzubringen, spiegeln eindeutig die Person, die Biographie Wilhelm Weigands wieder, der nie richtig von der heimischen Scholle loskam, was ihn auch schließlich in die Blut und Boden Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus führte und damit sein Lebenswerk in eine giftige braune Tinte eintunkte. Die Überarbeitungen des Frankenthalers durch Weigand zeigen in den Neueinfügungen seinen offen herausgetretenen Antisemitismus und seine heillose Blut und Boden Ideologie. Insofern sind beim Lesen der Frankenthaler die älteren Ausgabe zu bevorzugen und sind zum ideologischen Vergleich die späteren Ausgaben hinzuzuziehen. In den überarbeiteten Ausgaben finden sich nun z. B. eingesprenkelt Hinweise auf den Verlust eines Bauers, der durch Viehhändler um sein Gütchen gekommen war. Da die Viehhändler in einem großen Teil jüdischer Herkunft waren, steckt in diesem Weigandschen Hinweis der versteckte Vorwurf, der Jude sei schuld am Unglück des Bauern, an der trostlosen Situation der verarmten fränkischen Kleinbauern, am Niedergang des gesamten Bauerntums.
Weigands Frankenthal und das heutige Tauberbischofsheim haben wenig Gemeinsames. Selbst das Tauberbischofsheim zu Weigands Zeiten hatte der Gissigheimer Schnarrenberger, der sich erst im Jahr der Veröffentlichung des Frankenthaler nach dem Geburtsnamen seiner Mutter nannte, gehörig verändert, z. B. das Herausschneiden der kurmainzischen Amtsburg aus dem Stadtbild, z. B. mit der Nichtexistenz des katholischen Konvikts, z.B. die Begradigung der Tauber. Dafür hat er Frankenthal eine Fabrik gegönnt, obwohl zur Zeit des Romanschreibens Tauberbischofsheim sich in einem Status der höchstmöglichen Nichtindustrialisierung hielt. Erst kurz nach 1900 wurden die heute das Industriegebiet Tauberbischofsheim beherrschenden Firmen VS und Weinig gegründet. Carlheinz Gräter wies in seinem kleinen Bändchen über Tauberbischofsheim, in zwei Auflagen 1969 und 1974 erschienen, auf diese Differenz von Frankenthal und Tauberbischofsheim hin: „Wer sich heute Tauberbischofsheim mit seinem Weigand in der Tasche nähert, wird das literarische Modell kaum wieder erkennen. Hochgestaffelte Backstein-Kasernen, helle Wohnviertel, ein Industrierevier in der nördlichen Talaue, Altstadtsanierung und, Prosa in Potenz, knapp zwei Dutzend Schulen verschiedenen Typs konkurrieren mit der Weinpoesie des alten Frankenthal.“
Bemerkungen zu den überarbeiteten Versionen
Weigand hat den Frankenthaler später (mehrfach) an vielen Stellen überarbeitet. In der ersten und und in der erstmalig überarbeiteten Version fanden sich viele unklare Stellen, Widersprüchlichkeiten. Allerdings schlägt sich in den Weigandschen Überarbeitungen in einigen Stellen sein volksgemeinschaftliches Denken, seine Nähe zum Nationalsozialismus, sein Antisemitismus nieder. Wer „Die Frankenthaler“ verstehen will, sollte auch die überarbeiteten Versionen lesen. Im überarbeiteten Frankenthaler gibt Weigand das Jahr 1889 als das Jahr an, in dem der Roman spielt. 12 000 Einwohner sind nun für Frankenthal zu verzeichnen. Das ist fast das vier- bis fünffache dessen, was Tauberbischofsheim um diese Zeit an Einwohnern hatte und erst ca. 90 Jahre später an Einwohnern erreichte. Selbst die Stadt Rothenburg hatte zu dieser Zeit nur ca. 7000 Einwohner. 12 000 Einwohner – da hat Weigand ziemlich dick aufgetragen! Frankenthal – eine mittelalterliche Großstadt! Ein Stadt, die zudem ihr Stadtgefüge bis auf ein Villenviertel immer noch innerhalb der früheren Befestigung hat. Die Gründerzeiterweiterungen sind an Frankenthal fast spurlos vorbeigegangen. 12 000 Einwohner - das klärt auf, warum einige der Weigandschen Romanfiguren im Stadtbild Frankenthals am Tauberbischofsheimer Stadtumfang und –inhalt gemessen, überraschend lange Weiten beim Spaziergang hinter sich bringen und in vielfältig verwirrenden Gassen umherlaufen können, dass es Viertel gibt, die manch ein Frankenthaler nie durchschreitet, dass das Armen-Viertel bei einer Einwohnerzahl von 12 000 auch wesentlich größer als die real existierenden von Tauberbischofsheim waren. Das Lustschloß Monrepos wird nun in der überarbeiteten Version vom Fürstbischof von Würzburg für seinen Neffen errichtet! Die in der unbearbeiteten Auflage unklare Situation, warum ein Fürstbischof ein Lustschloß erbaut, in dem es fürstliche Nachkommen gibt und schönste Lustfrauen zum Einsatz kommen, wurde in der überarbeiteten Version entschärft und etwas geklärter, wenn auch nicht vollkommen, da Weigand bei der Überarbeitung manchen Hinweis aus der ersten Auflage übersah, dass der Bewohner von Monrepos ein Geistlicher war: Bemerkungen wie „der zeitgemäße Seelenhirte“, „an dem Hofe des geistlichen Gewalthabers“, „unter dem Krummstab gut wohnen sei“ blieben unbearbeitet, unverändert. So stellt sich der Bewohnerstatus von Monrepos in Zwitterstellung, das lasterhafte Leben eines oberen Seelenhirten lugt immer noch herein. In die überarbeitete Version flossen auch viele geschichtliche Details ein, die z. B. erst in der „Geschichte der Stadt Tauberbischofsheim und des Amtsbezirks“ von Julius Berberich genannt werden, 1895 erschienen. Die Gründungs- und Entstehungsgeschichte Frankenthals nähert sich der von Tauberbischofsheim an. Die von Tauberbischofsheim vereinnahmte Hl. Lioba wird nun auch Frankenthal gegönnt als Bezeichnung der neuen Stadtkirche, während in Tauberbischofsheim die Klosterkapelle als Liobakirche bezeichnet wird. Auch die wunderschöne Tauberbischofsheimer Weinpoesie, „dass man am Sonntag auf der Gänswiese hellen Wein verschenkte, den man nicht nach dem Maß, sondern nach der Trinkzeit bezahlte“, findet erstmals eine literarische Würdigung im Frankenthaler. Unbedingt wieder einführungswürdig, natürlich in Tauberbischofsheim. Es muß kein heller Wein sein, es darf auch ein Tauberschwarz sein. Die Tauber wird in der Neuüberarbeitung gegenüber der strikten Nichtnennung in der Urversion als Flussname bei einem Hinweis auf Gamburg erwähnt, die Frankenthaler führten zudem Wallfahrten ins nahe gelegene Niklashausen zum Pfeifer-Hans 1476 durch, insofern zieht nun in den Frankenthaler der die Region namensprägende Fluß auf Umwegen ein.
Eine grundsätzliche Veränderung erhielt die Romanfigur des Hausier-Välte, der in der Urversion noch den Geburtsnamen Valtin Bundschuh trug und bei der Weigandschen Überarbeitung zu einem Vetter des Überfrankenthalers Valtin Gramlich wurde, wenn auch aus einer verarmten Seitenlinie. Namensgleich stehen sich nun Frankenthaler Bourgeoisie und Proletariat gegenüber, Kapitalist und Prolet, aus einer Verwandtschaft, und beide Wortführer von Ober- bzw. Unterschicht Frankenthals. Dem Hausier-Välte schreibt Weigand eine Gosch wie ein Schwert zu, also eine Schwertgosch der Unzufriedenen von Frankenthal. Der Vater des Kapitalisten Valtin Gramlich hatte den (Prolet) Gramlich aus seinem früheren Posten als Schreiber entlassen, insofern suchte dieser nach einer Gelegenheit sich an den reichen Gramlichs zu rächen. Als Hausierer vertrieb er „Schönhuthsche Volksbücher“, ebenfalls eine Neuerung Weigands mit der er den Edelfinger Pfarrer und Vielschreiber Otmar Schönhuth verewigte. Das Haus des Hausier-Välte im Kressenwinkel war der Treffpunkt der Frankenthaler „Nörgler“, der Kleinbürger, der Armen-Leute. Hadmarshelle und Kressenwinkel in Frankenthal, Dörgei und Walachei in Tauberbischofsheim? Die Hadmarshelle erhält als geographisch-städtisches Merkmal einen Rundplatz In der überarbeiteten Version schreibt Weigand dem Hausier-Välte die heftigste Gegnerschaft gegenüber der Fabrikgründung zu. Ein sozialdemokratisch Bewusster der damaligen Zeit um 1889 hätte sich allerdings kaum gegen den Bau einer Fabrik gestellt! Ziele wären höhere Löhne und langfristiger die Expropriation der Expropriateure gewesen. Die Expropriation von Grund und Boden für den Fabrikbau als Grund des Widerstandes wird im Frankenthaler nicht als Beweggrund benannt, sondern es wollten wohl vielmehr Frankenthaler ihre Grundstücke im Rahmen der Neugründung verkaufen. Als sich die Fabrik etabliert hatte, versuchte Hausier-Välte „aus den Arbeitern zielbewusste Sozi“ zu machen. Im realen Tauberbischofsheim hatte die Sozialdemokratie zu dieser Zeit keinen Fuß auf dem Boden, es gab ja auch kein echtes (Firmen-)Proletariat als Ansprechpartner bzw. Quellgrund sozialdemokratischer Bewegung. Hans Brümmer aus Tauberbischofsheim, Sohn eines Schmiedes aus der Unterstadt, erlangte erst nach 1910 höhere sozialdemokratische bzw. gewerkschaftliche Positionen. Der spätere IG-Metall Vorstand trat auch mehrfach in Tauberbischofsheim als Redner auf. In der Überarbeitung des Frankenthalers ist der Hausier-Välte viel gegenwärtiger als in der Erstversion, in den Häckerhöfen ist er zu hören, Dr. Merkel trifft ihn bei seinen Hausbesuchen von Kranken auf dem Gau, in den Gassen Frankenthals steht er beobachtend an Ecken und Plätzen. Eine klassenkämpferische Position bezieht er in seiner Rede an die Fabrikarbeiter, in der er deutlich von einem „Klassenstaat“ spricht.
Ist im Ur-Frankenthaler kaum ein Hinweis auf jüdisches Leben zu finden, nimmt Weigand bei der Überarbeitung subtile Einfügungen vor. Bei der Versammlung des Aufsichtsrates der Fabrik im Gramlichen Garten ist nun ein Bankier David Spiegel anwesend. Oder dass ein Bauer seinen Bauernhof wegen Viehhändlern verlor. Das offene antisemitische Bekenntnis von Weigand, dass er den jüdischen Wuchergeist in seiner Kindheit kennen gelernt habe, fließt stellenweise, wenn auch äußerst subtil beigefügt und ergänzt ein. Weigandscher Rassismus und Antimultikulturalismus tritt allerdings auch deutlicher auf: „Eine Negerin wird keine Frankenthalerin, auch wenn sie hier zur Welt gekommen ist.“
Der Agrarreformer Dr. Merkel genießt in der bearbeiteten Auflage einen veränderten, weltanschaulich begründeten Reformansatz. Er betont, dass er einen Bauernbund gründen will. In einer Unterhaltung des Lehrers Freiherr von Usedom mit Amtsrichter Schimpf kommt sein Mangel in der Ansprache seines bäuerlichen Potentials zur Sprache: „Der Mann hat Ideen; aber er ist ein schlechter Redner …“ Dagegen wird die Ansprachekunst des Hausier-Välte gehalten: „… so muß man zu den Hinterwinklern sprechen: klar, grob, sinnfällig! Es leben die leeren Taschen!“ In Merkels Verteidigungsrede vor dem Gericht zeigt sich die weltanschauliche Basis seiner agrarischen Reformen: die der Volksgemeinschaft: „Nur da, wo die Erde, der mütterliche Boden in den Grenzen einer gesicherten Volksgemeinschaft das Schicksal eines Volkes bestimmt, da ist der Friede. Der Bauer, der seine Scholle bebaut, braucht nicht in seinem Nachbarn, den die gleichen Naturgewalten: Regen, Frost, Hitze und Kälte, bedrohen, den Konkurrenten zu hassen und zu unterbieten …“ Der Bauer, aufgehoben in der Volksgemeinschaft gegenüber den individualisierten, freigesetzten Arbeitern. Die solidarische Gemeinschaft der Arbeiter in der Gewerkschaft bleibt Weigand völlig fremd. Das Volksgemeinschaftliche, das Völkische führten Wilhelm Weigand von der zunächst altväterlich daherkommenden Frankenthaler Weinpoesie in die braune Tunke des Nationalsozialismus.
In Julius Berberichs „Geschichte der Stadt Tauberbischofsheim und des Amtsbezirks“ ist auf den ersten Umschlagsseiten eine Ansicht Tauberbischofsheims aus dem Jahr 1895 abgebildet, die in idyllisierender Form Tauberbischofsheim zur Zeit des Frankenthalers wiedergibt.
Wilhelm Weigand: Die Frankenthaler. Ein Roman. Vierte umgearbeitete Auflage. Deutsche Buch-Gemeinschaft. Berlin, 1924
Das badische Frankenland, exakter Tauber-Franken, hat mit dem aus Gissigheim stammenden Schriftsteller Wilhelm Weigand seinen bisher bedeutendsten Literaten erhalten. Mit seinem Erstlingswerk „Die Frankenthaler“ führte er 1889 unseren Raum in die deutsche Literatur ein. Der Novellenband „Weinland“ nahm sich erneut dem literarisch als Frankenthal verfremdeten Tauberbischofsheim an, sowie den Ortschaften Königheim und Gissigheim. In der „Iliade von Bobstadt“ bekriegen sich dessen Einwohner mit Gamburg, aber die beiden realen Gemeinden haben außer dem Ortsnamen nichts mit den literarischen Fiktionen Weigands gemein. In weiteren Werken Weigands („Florian Geyer“, „Helmhausen“, „Die ewige Scholle“, „Die Gärten Gottes“, „Der Ring“, „Von festlichen Tischen“) ist Tauber-Franken der literarisch bezogene Raum. Allerdings sind die regionalen Romane, Novellen, Dramen nur ein Teil des überbordenden Schaffens von Wilhelm Weigand.
Welcher Literaturgattung können wir Weigands regional bestimmte Werke zuordnen? In welche Literaturströmungen trat Weigand mit seinem „Frankenthaler“ ein? Auf welche Literaturbewegungen traf Weigand? Im Jahr seiner Erstveröffentlichung war das literarische Deutschland von Zolas Naturalismus, dem realistischen Darstellen sozialer Milieus, geprägt und beeinflusst. Weigand, der in Paris studierte, wandte sich gegen den „Zolarummel“, wie er sich in seiner Autobiographie „Welt und Weg“ bekannte. Damit stand er – nicht nur in Berlin, wo er 1889 lebte – gegen den literarischen Zeitgeist, der unter anderem Gerhart Hauptmann in Bedeutung setzte. Für Weigand war der Naturalismus der „Sklavenaufstand in der Literatur“ (Welt und Weg, Seite 41), weil es dem Naturalismus nach seiner Meinung nicht gelang, „höhere Menschen“ darzustellen, weil der Naturalismus für ihn „eine Frage des Kunsthandwerks, wie es kleinen Naturen zusagte“ (Welt und Weg, Seite 42), war. Wilhelm Weigand, selbst aus kleinen ländlichen Verhältnissen stammend, machte sich mit seiner herrenmenschlichen, sozialaristokratischen, wenn auch immer noch dominanten kleinbürgerlichen Haltung, mit seinen literarischen, in die als besser empfundene Vergangenheit gerichteten Vorlieben, selbst zum Außenseiter der Literaturscene, wie er immer wieder beklagte!
Seine französischen Vorbilder Balzac, Flaubert, Stendhal, der Zug zur Neuromantik, zum Aristokratischen, verankerten Weigand in der Vergangenheit, im literarisch abgetretenen Realismus, stempelten ihn als ungleichzeitigen Schriftsteller ab, verhinderten damit auch seinen Erfolg. Neben seine umfangreiche, u. a. mit Essays über Montaigne, Balzac gekennzeichnete „Französerei“, neben seinem verspäteten Realismus trat seine entschiedene tauberfränkische Regionalität, mit großem lokalem Geschichtsbewußtsein gespeist, die er in den Gegensatz zu seinen negativen Großstadterfahrungen setzte. Er wurde damit Teil der deutschen Heimatkunst, einer eingeschränkten literarischen Provinz, der Weigand mit seiner antimodernen Einstellung, seiner Regionalität, seinen späteren „Blut-und-Boden“-Romanen, seiner nach dem 1. Weltkrieg immer offener hervortretenden völkischen Gesinnung, die im Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Antisemitismus überging, entgegenkam. „Die Frankenthaler“ selbst hatten darunter schwer zu leiten. Weigand überarbeitete sein Erstlingswerk mehrfach, versuchte dem gewandelten Zeitgeist zu entsprechen, der nach 1920 verstärkt völkisch-nationalistisch daherkam. Neben regionalgeschichtlichen Einarbeitungen aus der Historie Tauberbischofsheim floß Weigands volksgemeinschaftliche Weltanschauung ein, fanden sich nun Stellen eines subtilen Antisemitismuses, kündete sich die „Blut-und-Boden“-Ideologie an.
Die Regionalität eines Romanschreibers, des Romanraumes, ein regional bezogener Roman, ein regionaler Roman, mündet nicht von selbst in den völkischen Anti-Modernismus, der sich in den Spätjahren Weigands immer mehr verdeutlichte. Norbert Mecklenburg hat in seiner germanistischen Studie „Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman“ darauf hingewiesen. „Die moderne Welt ist voll von regionalen Romanen. Der Irrtum besteht darin zu meinen, wenn ein Roman welthistorische Geltung erlangt, sei er kein regionaler Roman.“ Romane wie „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz, „Doktor Faustus“ von Thomas Mann lassen sich als regionale Romane identifizieren, als kritische Provinzromane lesen und deuten. Die Poetik der erzählten Provinz im „Frankenthaler“ verbleibt allerdings kulturpessimistisch, bleibt fern der Strömung der Weltgeltung erlangenden „regionalistischen Internationalen“ als Verbindung zur Moderne. Dennoch walten im „Frankenthaler“ Gedanken einer Erneuerung, der Aufrüttelung, der Aktivierung der Bevölkerung, allerdings im Sinne einer konservativen Revolution! Weigands „Frankenthaler“ repräsentieren sich in einem regionalen Roman, der weder welthistorische noch besondere nationale Geltung erhalten hat. Auch in der Region Tauber-Franken sind „Die Frankenthaler“ längst in Vergessenheit, Nichtgelesenheit, geraten. „Die Frankenthaler“ in ihren ersten Auflagen sind in ihrer die damals niedergegangene Tauberbischofsheimer weinbauliche Wirtschaftsdominanz aufwärmenden Thematik dennoch ein klares lesenwertes Dokument eines Heimatromans, eines regionalen Romans im Spannungsbereich des Einbruches der Modernisierung. Gleichzeitige und ungleichzeitige Momente charakterisieren diese ersten Auflagen. Die Frankenthaler sind trotz aller antimodernen Gegentendenzen, ein interessanter Roman, der mit seiner Bezogenheit auf den sozialen Realismus, der kleinstädtischen Sozialstruktur, den Unterschichten – also den Bewohnern der Tauberbischofsheimer „Türkei“, der „Walachei“, der Frauenstraße – durchaus eine episch strukturierte Darstellung ihrer Lebenswelt einräumt. Die Frankenthaler geben sich als ein Kleinstadtroman, in der das Proletariat - also die kleinen armen Bischemer Leute, die von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit bedrohten Weinhäcker - zur Sprache kommt, in Aktion tritt, insbesondere in der Person des Hausierers Valtin Bundschuh, in späteren Auflagen in Valtin Gramlich umbenannt. Die Idylle einer Kleinstadt, die Harmonisierung, die Verdeckelung aller Konflikte in der Gemeinsamkeit biedermännlicher Kleinstadtbürger, wird von Weigand im Frankenthaler durchbrochen, letztendlich allerdings wieder eingeholt und hergestellt.
Weigand wird mit dem Frankenthaler zum Opfer seiner selbst. Herkunft bedingt gelingt ihm eine präzise Nachbildung der Sprache, der Sprachbilder, des Humors, der Gedankenwelt, des Verhaltens, der Alltags- und Lebenswelt der kleinen Leute Tauberbischofsheims, setzt er der Bischemer „Türkei“ und „Walachei“ ein verewigendes Gedächtnis des waltenden Eigensinns, Herkunft verleugnend dringt seine selbst als sozialaristokratisch bezeichnete Welt des Entfliehens und auch Entkommens aus dem eigenen Milieu dennoch tief in die Frankenthaler ein. Die Frankenthaler Unterschicht kann sich nur kurzzeitig empören, ohne langfristige Konsequenzen radikalisieren, verbleibt krakeelend perspektivlos, ohne weitergehendes Sozialprogramm einer generellen Umgestaltung der eigenen Lebensverhältnisse. Helden für einen Abend, kurzfristiger Suff und schnell vergehende Auflehnung gegen die wahren Kleinstadtbeherrscher. Der Frankenthaler Revolution fehlt der Führer, der den Weg weist – dieser kann für Weigand nur ein völkischer sein, einer der die Massen nach der „Blut-und-Boden“-Ideologie führt. Der im Roman aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen kommende Dr. Merkel – in dem sich Weigand hauptsächlich wohl selbst widerspiegelt - wird in den verschiedenen, überarbeiteten Auflagen zu dieser die Volksgemeinschaft herstellenden und führenden Persönlichkeit. Die Sozialdemokratie war zur Entstehungszeit des Frankenthalers Tauberbischofsheim fern. Die Unterschicht war noch von der niedergegangenen Häckerarbeit geprägt, Fabriken, aus derer Arbeiterschaft sich sozialdemokratische, sozialistische Bewegungen entwickeln konnten, fehlten in Tauberbischofsheim. Im Frankenthaler führte Weigand eine Papierfabrik ein, die den Anbruch der Industrialisierung, der Modernisierung, die Entstehung eines neuen Proletariats aus Fabrikarbeitern einleitete. Der heimliche Herrscher Frankenthals, der ehemalige Weinhändler und Fabrikgründer Gramlich sieht schon die Gefahr, dass die rote Fahne der Revolution über dem Rathaus weht, dass mit dem neuen Proletariat, das in den Unterschichtsbezirken Frankenthals mit dem alten weinhäckerisch gefärbten Proletariat zusammenwohnte und vermengte, ein permanenter Brandherd in der behäbigen Kleinstadt, entstand.
Wie weit ist Tauberbischofsheim, das damalige Tauberbischofsheim der Jahre um 1889, im Roman „Die Frankenthaler“ überhaupt erkennbar? Wir dürfen nicht von einer 1 zu 1 Übernahme ausgehen, eher von einer mit schwer durchschaubaren Montage aus Realität und Fiktion. Frankenthal liegt an einem Fluss in Kleinfranken, in einem Band auch Überfranken genannt. Die Zugehörigkeit zu Baden entfällt, es tritt ein starker Bezug nach Würzburg auf. Frankenthal ist eine ehemalige Reichsstadt, Tauberbischofsheim war über die Jahrhunderte hinweg eine seit dem Bauernkrieg niedergehaltene kurmainzische Amtsstadt. Frankenthal hat eine Einwohnerschaft von 12000 Einwohner, Tauberbischofsheim wies ca. 2500 Einwohner auf. Das kurmainzische Schloß entfällt vollständig, dafür gibt es auf der Stadtgemarkung ein Barockschloß Monrepos. Das Stadtbild, Weichbild Frankenthals entspricht mit seiner niedergelegten Stadtmauer, den Wällen mit Kastanienalleen dem Tauberbischofsheims. Das damals „moderne“ Tauberbischofsheim, also die Flussbegradigung der Tauber, die Neubauten von Amtsgericht, Gefängnis, Spital, Gymnasium, Konvikt u. a. wird bis auf den Bahnhof negiert! Frankenthal verbleibt im Stadtbild des ehemals ummauerten Tauberbischofsheims, nur ein Villenviertel schließt sich direkt an die ehemalige Stadtummauerung an. Die Gründerzeit, die Entstehung von Mietskasernen, Amtsgebäuden, wird ausgeblendet. Frankenthal erscheint so behäbiger als es Tauberbischofsheim zur Zeit der Entstehung des Romans tatsächlich gewesen war. Die Tauberbischofsheimer kurmainzische Geschichte, im Frankenthaler entfallen, wird von Weigand auf die Kleinstadt Bilzheim übertragen. Bilzheim, von den Einheimischen im Frankenthaler Bilze genannt, ist leicht als Külsheim, Külze, erkennbar. Bilzheim von der Lage Külsheim, von der Geschichte Bischofsheim entsprechend! In einigen Auflagen steht in Frankenthal der Türmersturm, bestückt mit einer Uhr mit einem „Mohrenkopf“, der die Zeit mit ein- und ausfahrenden Zungenbewegungen und dazu rollenden Augen angibt. Ein Montage, die Weigand aus dem alten, abgerissenen Gefängnisturm Gissigheims, der eine solche Uhr aufwies, auf Frankenthal einarbeitete.
Der Roman „Die Frankenthaler“ gehört zu den Regionalromanen, zu den Kleinstadtromanen, wenn auch nicht zu den kritischen Provinzromanen, die eine Reportage der kleinstädtischen Sozialwelt versuchen wie Falladas Bild der Kleinstadt Altholm in „Bauern, Bonzen und Bomben“, wie in Leonhard Franks „Ochsenfurter Männerquartett“ beispielsweise. „Die Frankenthaler“ verwandeln sich ab der Auflage in der Deutschen Buchgemeinschaft in den 1920er Jahren in eine volksgemeinschaftlich begründete „Blut-und-Boden“-Ideologie mit deutlichen präfaschistischen Momenten durchsetzt. Weigand ordnet in der Weimarer Zeit „Die Frankenthaler“ in eine dreibändige Reihe zur Bodenfrage ein – aus dem Frankenthaler des poetischen, literarischen Realismus wird ein Frankenthaler des Präfaschismus! Allerdings bleiben die rassistisch geprägten Ausfälle Weigand, wie sie im Roman „Die rote Flut“, oder auch im Roman „Helmhausen“ deutlich auftreten, auch den letzten Überarbeitungen erspart, versauern dem Leser dennoch Lust und Genuß, „Die Frankenthaler“ dieser Auflagen zu lesen und zu studieren. Norbert Mecklenburg hat in seiner Studie „Erzählte Provinz“ den norddeutschen regionalen Roman von Gustav Frenssens „Otto Babendiek“, 1926 erschienen, zwischen „poetischem“ Realismus und Faschismus eingeordnet, genau dort, wo auch „Die Frankenthaler“ in ihrer Veränderungsgeschichte einzureihen sind!
Das erste Kapitel der 3. Auflage wandelt sich in der 4. Auflage in ein „Vorkapitel, das die Verächter der großen und kleinen Weltgeschichte überschlagen können“. Größtenteils finden sich hier nicht gekennzeichnete Adaptionen aus Julius Berberich 1895 erschienenen „Geschichte der Stadt Tauberbischofsheim“, einer stadtgeschichtlichen Pionierarbeit. Z. B. S. 9 der Hinweis auf den russischen Metropolit wurde von Berberichs Arbeit Seite 77 fast wörtlich übernommen; der Hinweis im Frankenthaler von Seite 10 auf den Pfeifer von Niklashausen stammte aus Berberich Seite 78. Mit Berberich konnte Weigand die Frankenthaler historisierend tauberbischofsheimerisieren! Sebastiansbruderschaft, die Stadtbefestigung mit ihren 21 Türmen, das Weintrinken auf der Gänsewiese nach Zeit statt nach dem Maß, alles berberiche Geschichts-Innovationen. Die 21 Türme, die Weigand übernommen hat, sind allerdings eher eine unfreiwillige Innovation Berberichs, denn auf S. 178 führt er den Titel „Der Türmersturm auf dem Schulplatz und die 20 Türme der befestigten Stadt Tauberbischofsheim“ an, macht zusammen 21 Türme. Direkt darunter schreibt Berberich, „der Türmersturm ist einer der 20 Wart- und Festungstürme“! Bei den Beiträgen zu Stadtchronik von Gehrig und Müller erwähnen diese auf S. 203 den „Wasserturm“, der nicht zu den 20 Befestigungstürmen gerechnet wurde, also insgesamt doch 21 Türme! Frankenthal wurde durch Weigands Kenntnisnahme von Berberichs Stadtgeschichte mit Tauberbischofsheim gemaßnahmt, historisch auf ähnliches Level geformt. Die Herren von Löffelstelz, die im nahen, oberen Vorbachtal – nach einem Spaziergang von Georg v. Büttner mit dem Freiherr von Usedom zu schließen – in direkter fußläufiger Nähe links des Flusses flussabwärts liegend, das Eselslehen; die Einschätzung, dass die Stadt im Bauernkrieg mit einer milden Buße davon kam, sind Weigands historische Einfügungen ohne realen historischen Background.
Den Weinhändler, nun auch ehemaligen Apotheker und Papierfabrik Gründer und Aufsichtsratvorsitzenden Valtin Gramlich lässt Weigand auf Seite 27 zu einem Mann machen, der sich zu den 1848er Männern „sich halb und halb selber zählte“. Der Roman spielt in den „achtzehnhundertachtziger Jahren“ (Seite 20), Valtin Gramlich wird als „angehender Fünfziger“ (Seite 22) eingeführt. In späteren Auflagen wird als Handlungsjahr 1889 angegeben. Schon rein mathematisch wird klar, warum sich Valtin Gramlich nur halb und halb als 1848er selbst zählen konnte, er wäre ein ziemlich junger 1848er gewesen, heute würden wir sagen, ein gefühlter 1848er! Fehlerchen, die sich vor allem durch die vielzähligen Überarbeitungen in die Frankenthaler eingeschlichen haben!
Ein Lektoriat gab es wohl nicht, oder dieses war mit den vielen Wendungen Weigands und historischen Neudeutungen überfordert! Weigand lässt in einer seiner literarischen Fiktionen Beethoven in dem auf städtischen Grund liegendem Schloß Monrepos musizieren (S. 234 und S. 239). Weigand kam hier wohl auch mit einigen seiner eigenen Überarbeitungen und historischen Erfindungen nicht klar, denn er gab auf den beiden Seiten als Sitz des Deutschordensmeisters einmal Mergentheim, einmal Marienthal an. In der „Novelle“ Musikantenstreik wandelte er Mergentheim in Marienthal um. Warum sollte es Mergentheim besser als Tauberbischofsheim gehen! In der 4. Auflage kommen auch die Tauberbischofsheimer mit einer Erwähnung endlich in einem Frankenthaler zum Zuge. Es gibt einen fiktionalen Hinweis auf den „Schleier der allerheiligsten Muttergottes und Patronin Frankens, den die Frankenthaler den Biscovesheimern auf einer Kirchweih stahlen“ (S. 343)
Im Frankenthaler findet sich statt der Tauberbrücke die Karlsbrücke, eine alte hochgespannte Brücke aus rotem Sandstein mit steinernen Standbildern des Frankenkaisers Karls des Großen und seiner Paladine. Die 1847 abgebrochene steinerne, siebenbögige Tauberbrücke wies allerdings eine steinerne Mutter Gottes auf. Vor der Brücke macht der Frankenthaler Fluß eine scharfe Biegung, die Tauber hatte ihre Biegung durch die Flussbegradigung zu einem kanalähnlichen Durchfluß verloren. Die Brücke am Oberen Tor Tauberbischofsheims wies wie gewohnt einen Nepomuck auf. Im Frankenthaler heißt das Obere Tor „Falkentor“. Die Frankenthaler Karlsbrücke als auch die alte Tauberbrücke wurde ein Opfer der Überschwemmungen. In der 3. Auflage wird das Schloß Monrepos am Tage des großen Regenfalles und der Überschwemmung, infolge der durch die Finanznot des Fürsten abgeholzten Hänge schutzlos, von einer Schlammlawine hinwegbefördert, in der 4. Auflage wird nur der Park des Schlosses überschwemmt. Die Beschreibung der Wallanlagen am Uferbereich passt zu den Wallanlagen Tauberbischofsheims vor der Flussbegradigung.
Mitteilungsblatt im Frankenthaler ist der „Fränkische Bote“. Der Herausgeber wird in der 4. Auflage als alter 48er mit roten Ansichten bezeichnet, in der 3. Auflage war der Herausgeber und Redakteur der Buchhändler Väth, der sich in eine Tochter Gramlichs verliebte. In der Novelle „Der Messiaszüchter“ wird der Herausgeber, das Gebäude (am Marktplatz liegend), der Redakteur, näher beschrieben. Seit 1863 gab es in Tauberbischofsheim die Zeitung „Die Tauber“, herausgegeben vom Drucker und Buchhändler Josef Lang, den Liberalen zugerechnet. Im Kulturkampf führte die Einstellung Langs zum Konflikt mit dem katholischen Stadtpfarrer. Lang publizierte allerdings auch das Büchlein des Stadtpfarrers Rombach über die Liobakirche, als auch historische Ausführungen Rombachs, z. B. zum Bauernkrieg. Zuerst war die Druckerei Langs am Markplatz, entsprechend dem „Fränkischen Boten“ am Marktplatz untergebracht, später im Leiningenschen Rentamt und in den Hintergebäuden in der Martinsgasse, in dem in der Nachfolge heute die Druckerei Schnaufer ansässig ist. Der namensähnliche, zentrumsnahe „Tauberbote“, später „Tauber- und Frankenbote“, wurde erst 1893 gegründet, kann also kein Namensvorbild sein, heute als „Fränkische Nachrichten“ bekannt. Der Herausgeber des „Tauberboten“ Markus Zöller publizierte die Stadtgeschichte von Julius Berberich.
Doktor Merkel wird nach dem Prozeß gegen ihn als „Wühler“ und angeblichem Beteiligten und Anführer der Ausschreitungen mit seinem Freispruch zum Kandidat für den Reichstag berufen. Im Wahlkreis Wertheim-Tauberbischofsheim gab es für die badischen Reichstagssitze nur die aussichtsreiche Kandidatur über das „Zentrum“ und die „Nationalliberalen“, die Kandidaten in den Reichstag bringen konnten. Die Sozialdemokratie spielte in dieser proletenarmen Region keine Rolle. Auch wenn Dr. Merkel ab der vierten Auflage sich sprachlich und philosophisch in der Volksgemeinschaft betonenden Blut-und-Boden-Weltanschauung eingegliedert hat, wird ihm die Nachfolge des Zentrumsabgeordneten Rettinger angetragen. In einem Gespräch mit Freiherr von Usedom schlägt ihm dieser vor, „sich als Kandidat einer rein volkswirtschaftlichen Gruppe, ohne die Vermischung von Politik und Religion, aufstellen“ (S. 374) zu lassen. Das Zentrum kann aber dem Katholizismus zugeordnet werden. In Baden errang das Zentrum seine wenigen Abgeordnetenplätze im katholisch grundierten Territorium, also zum Beispiel im „Heiligen Land“ des badischen Frankenlandes. Insofern wird mit dem Zentrumsabgeordneten Rettinger, das von Weigand nicht erwähnte Land Baden, indirekt mit seinen Verweisen eingeführt. Der Nationalsozialismus war zurzeit des Entstehens des weigandschen volksgemeinschaftlichen Frankenthalers noch nicht in der Region verankert, vielleicht hatte Weigand auch noch nicht zu diesem Zeitpunkt die NSDAP als seine Partei erkannt und gefunden, wie er dies im Roman „Helmhausen“ bekundete. Insofern hat Weigand das Zentrum wohl realistischer Weise und als indirekten Querverweis auf das „Heilige Land“ als die mögliche parlamentarische Heimat von Dr. Merkel angeführt. Dennoch ist klar, Weigand ist, war, an seinem Lebensende, in der NSDAP weltanschaulich zu hause gewesen, auch wenn er mit seinem sozialaristokratischem Gedankengut dort keinen großen Widerhall fand.
Die Frankenthaler haben neben der realistischen und fiktionalen Abbildung Tauberbischofsheims und Tauber-Frankens für Weigand von vorneherein die für ihn wichtige Aufgabe, seine Philosophie, seine Weltanschauung zur Bodenfrage zu künden, zu verkünden. Der Roman ist Weigands Programm, das er mit jeder Auflage weiterentwickelte und zudem mit den beiden Roman „Die ewige Scholle“ und die „Die Gärten Gottes“ in eine Bodentriologie bündelte. Seine Lebenserfahrungen als Kind und Jugendlicher auf dem Lande und als junger Erwachsener in großen Städten spiegeln sich in den Romanen, wobei das Land die bindende, positive Funktion, die Großstadt die auflösende, negative Funktion, übernimmt. Weigand differenziert durchaus bei der Betrachtung des Landlebens, des Kleinstadtlebens. Er zeichnet keine perfekten, Wirklichkeit ausblendenden Idyllen. Seine eigene harte, karge Vergangenheit, sein glücklichen Umständen zu verdankendes Entrinnen aus dem vorgezeichneten Schicksal, werden vielfach in seinen Werken aufgenommen und widergegeben. Auch seine eigene Hassliebe zur Provinz, zum Land, zur Kleinstadt ist deutlich zu erkennen, denn immer wider brechen Begriffe wie Spießer, Philister, Heuchler das Lob der Provinz. Weigand selbst kehrte dem Land den Rücken, wohnte in einer Großstadt (Berlin und München), wenn auch in Bogenhausen in einer Ländlichkeit imitierenden Landhausmoderne, blieb dem Lande fern und kehrt nur als Besucher wieder. Der Verlust von Bauernhöfen, die Aufgabe von Bauernhöfen, die Übernahme von Landgütern durch Spekulanten, die Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung, das Abholzen von Forstbeständen, der Abkauf der Weinernten durch Preis drückende Händler, das ärmliche Dasein der Weinhäcker ohne Bodenbesitz, das sind Weigandsche Fragen und Themen, die er aufwirft und beantwortet – wenn auch mit jeder umgearbeiteten Auflage mit immer völkisch werdender Weltanschauung! Die verschiedenen Auflagen des Frankenthalers sind nachvollziehbare Stationen des Wandels eines Bewusstseins, das sich mit dem Lande beschäftigt. Allerdings ist von vorneherein die Richtung zur Blut-und-Boden-Philosophie ansatzweise erkennbar. Die Bindung an den Boden und die Führung durch einen Führer, das erweitert und verbreitert sich im Frankenthaler in den Umarbeitungen von einer Landstraße zu einer Reichsautobahn, führt zu völkischem Denken, zum Einfinden im Nationalsozialismus. Im Denken und Sprechen von Dr. Merkel lässt sich dieser Wandel in den Umarbeitungen eindeutig nachvollziehen, was uns leider mit jeder umgearbeiteten Auflage den Genuß der Frankenthaler versauert. Eine Neuauflage des Frankenthalers stände vor erheblichen Schwierigkeiten: es müssten die verschiedenen Änderungen, Umarbeitungen dargestellt werden, ohne eine textkritische Analyse und entsprechenden Kommentar über den völkischen Wandel des Frankenthalers könnte das Buch sowieso nicht aufgelegt werden, dazu ist der Background Weigands zu sehr im braunen Sumpf eingesunken. Die braunen Spuren belegen, dass sich hier nicht alles im grünen Bereich befindet, der sich in und aus Weigands Schilderungen der tauberfränkischen Landschaft und Natur vordergründig abbildet!
Hans Dieter Schmidt: Die Frankenthaler. Der fränkische Dichter Wilhelm Weigand porträtiert seine Heimat. Manuskript der Sendung vom 8. August 1982, Bayern 2. Redaktion Dr. Wolfgang Buhl.
In den Untiefen des eigenen Archivs verschwinden immer wieder Unterlagen, die nach einer ersten, oberflächlichen Betrachtung als zunächst wenig gehaltvoll abgestuft werden. Aus den Augen, aus dem Sinn, ab in die Vergessenheit. Dann wird doch Jahre danach die Unterlage wieder vorgelegt und gewinnt schlagartig an Bedeutung, weil das Thema in den eigenen Fokus gerückt ist, eigene Gewichtungen sich verändert haben. Weigands Frankenthaler haben einen eigenen personalen Prioritätsstatus erlangt, so dass ein Manuskript wie das von Hans Dieter Schmidt aktuell elektrisierend wirkt, während es Jahre zuvor als nebensächlich abgetan wurde. Beitrug die eigene negative Einstellung zum Wertheimer Autor, der mit seinem schwachen Bühnenstück zum Pfeifer von Niklashausen als erledigt schien.
Nach der mehrfachen Rezension des Frankenthalers interessiert eine literarische Aufarbeitung des Frankenthalers von einem anderen Autor umso mehr, auch wenn diese fast 25 Jahre zuvor in die Welt kam. Die eigene Ignoranz wandelt sich zum Vorteil, eigene Wertungen mit Einschätzungen einer anderen Person vergleichen, messen zu können. Und wieder sammelt HDS Pluspunkte, überrascht HDS mit einer literarischen Analyse, die wir ihm nicht zugetraut hatten, nicht zugestanden hatten. An HDS ist wohl doch mehr, als unsere Vorurteile zuließen. Ein blitzsauberes Manuskript liegt uns hier vor, eine wirkungsvolle Interpretation des Frankenthalers, an der man sich abarbeiten kann, Anregungen mitnimmt, auch wenn man durch die eigenen Interpretationsversuche, nicht in alle Wertungen einstimmt, kleinere Irrtümer erkennt. Aber HDS hat einen Stoff geliefert, mit dem sich weiterwirken lässt. HDS haut Pflöcke der Interpretation des Frankenthalers in den Boden, an denen sich die eigenen Versuche zu beweisen haben.
Auch die literarische Analyse, die Kommentierung eines Romans, erweist sich als kraftvolle Stärke HDS. Warum können wir im umfangreichen Werk HDS nur so wenig für uns gültiges erkennen? Sollten wir doch besser den Spiegel vor uns halten, um uns selbst als Hindernisgrund dieser Erkenntnis zu erkennen? Wir missen Werke von HDS, die uns den Wiedererkennungswert bieten, wie sie dieses Manuskript zum Frankenthaler, aber auch die Erinnerungen von HDS zu den Juden von Adelsheim liefern.
HDS nimmt sich die Ausgabe von 1924 vor, hält diese für „voluminös“, obgleich Weigand seine 1. Auflage einmal als dünnes Werk bezeichnet hat. Mit den Überarbeitungen nahm auch die Seitenzahl des Frankenthalers zu. HDS liest das Buch streng vom Anfang an zum Ende durch und kommentiert geschickt wichtige Stellen. Er verbleibt allerdings bei einer literarischen Interpretation des fiktiven Frankenthals, schließt keine Vergleiche auf das reale Tauberbischofsheim, sondern rezensiert Frankenthal als eine tauberfränkische Kleinstadt in wilhelminischen Zeiten, interpretiert Wilhelm Weigand als Schriftsteller seiner Zeit und dessen Wirkung. HDS bemerkt, dass Weigand den Ober-Frankenthaler Valtin Gramlich in seinem spätbiedermeierlichen Lebensstil und sozialen Status beschreibt, die Tonart aber immer wieder mit kleineren Bosheiten und mit Ironie unterbricht, um sich von Valtin Gramlich zu distanzieren. Dasselbe Spiel treibt Weigand mit dem Bankier von Büttner. Für HDS ist dessen Sohn Georg von Büttner die Hauptperson des Romans in der sich Weigand, die Gedankenwelt Weigands widerspiegelt. Ausführlich analysiert HDS das Lebenskonzept Georg von Büttners: „Georg von Büttner entwickelt sich in Weigands Phantasie immer mehr zum Idealbild eines neuen Menschentyps: des national denkenden und scholle-verbundenen Bürgers einer neuen Gesellschaft, die im Entstehen begriffen ist. Wilhelm Weigand bezieht sich hier dabei auf Gedanken, die er in jungen Jahren schon kennengelernt hat, bei Werner Sombart beispielsweise, bei Hippolythe Taine, bei Friedrich Nietzsche. In sehr vielem ist Wilhelm Weigand ein Kind seiner Zeit. Er träumt den Traum von einem ursprünglichen, ganz dem Vegetabilen und Organischen hingegebenen Leben. Sein Georg von Büttner träumt für ihn. Und alle, die sich dagegenstellen, werden abgetan. Von den Bauern wird ebenfalls ein Idealbild gemalt.“ (Seite 14/15) HDS deutet an, wohin das Träumen von scholle-gebundenen Mensch führen wird: „Wir wissen inzwischen, wohin diese naive Bauerntümelei geführt hat. Wilhelm Weigand entwirft einen Menschen, der in seiner Unverfälschtheit überzeugen soll. Aber wir erkennen: solche Figuren können vierzig Jahre später zu Herrenmenschen missraten. Weigand strebte dies gewiß nicht an, doch dieser Zug in seinem Erzählen ist unverkennbar. Er liefert ein Beispiel dafür, wie Heimatliteratur ideologische Muster zu zeichnen versteht, die eines Tages politisch gefährlich werden können.“ (S. 15) HDS bleibt wohl unbekannt, dass gerade in den Überarbeitungen sich der Frankenthaler von einem Buch aus dem Stil des Realismus sich zu einer völkischen, volksgemeinschaftlichen Ausgabe gewandelt hat. Weigand passte die Frankenthaler durchaus bewusst und beabsichtigt dem gewandelten, völkisch geprägten Zeitgeist der Weimarer Zeit an, bereitet ideologisch das Dritte Reich vor.
Widerspruch muß auch für die Einschätzung von HDS in die von ihm als Kontrastfigur zu Georg Büchner eingeschätzte Person des Arztes Dr. Merkel gelten. HDS schätzt diesen von Weigand als Sohn eines Schuldenbäuerleins beschriebene Figur als realistisch Denkenden und Handelnden ein: „Der Arzt Dr. Merkel hat eine ganz andere Beziehung zu Land und Leuten als Georg von Büttner. Es gibt bei ihm keine idealistischen Träume, nur ein klarer und beinahe unbestechlicher Blick auf die Wirklichkeit.“ (S. 16) Davon ist bei einer volksgemeinschaftlich geprägten Weltanschauung wie die von Merkel allerdings nicht auszugehen! Weigand spiegelt eigene autobiographische Züge in der Romanfigur des Dr. Merkels, wie Herkunft aus einer bäuerlichen Familie, die Chance zum Lateinstudium durch den Ortspfarrer, das Entkommen aus einem vorgezeichneten Schicksal als Knecht, die Möglichkeit eines Studiums. Realistisch ist Dr. Merkel in der Analyse der wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Situation Tauberfrankens. Der Weinanbau, als Jahrhunderte lang prägende Wirtschaftsweise ist niedergegangen, die kleinteilig geformte Landwirtschaft in der Krise. Insofern entwirft Dr. Merkel in den ersten Auflagen genossenschaftliche Reformgedanken, hält in den Dörfern Versammlungen zur Bildung von Genossenschaften ab, macht Vorschläge zur Hinwendung zum Obstanbau, wenn auch ohne Erfolg und Widerhall. Die Gedankenwelt Dr. Merkels, seine Philosophie, seine Weltanschauung zeigt dagegen wenig Realismus, offenbart die Richtung zum Blut-und-Boden-Denken. Weigand doppelt quasi in den landwirtschaftlichen Vorstellungen von Georg von Büchner und Dr. Merkels seine Philosophie der Bodenfrage: zum einen als Reform des Landadels und als volksgemeinschaftlich organisierte Reform der bäuerlichen Bodennutzung. Hier bildet sich die paradox auftretende Auffassung Weigands wider: er hält sich selber für eine Sozialaristokraten, obwohl einfacher bäuerlicher Herkunft abstammend, ist auf der Suche nach „höheren“ Menschen, die führen, kann aber andererseits seiner eigenen kleinen Herkunft nicht entkommen, bildet diese immer wieder in seinen Romanen ab, strebt also eine neue Volksgemeinschaft von Landadel und Landbauern an
HDS wendet sich auch der Analyse der Weigandschen Poetik einer ländlichen Kleinstadt zu. Neben idyllischer Beschreibungen treten allerdings immer wieder, für HDS „naturalistische“, Schilderungen der sozialen Wirklichkeit und Spaltung der Kleinstadt: „Wilhelm Weigand stellt in seinem Roman so etwas wie das Panorama der sozialen Spannungen in einer Kleinstadt um 1890 dar. Trotzdem: die Idylle bleibt, die Röhrenbrunnen auf dem Marktplatz von Frankenthal rauschen unablässig weiter, die Bauernkarren rollen durch die Gassen, die Fachwerkhäuser verbreiten Heimeligkeit und Stille. Ein Schein, der trügt.“ (S. 12/13) Den Naturalismus des Weigandschen Schreibens entdeckt HDS in dessen Schilderungen des Arme-Leute-Viertels „Hadmarshelle“. Weigand selbst lehnte den Naturalismus scharf ab, weil es diesem nicht gelänge, „höhere“ Menschen zu zeichnen. Die Zeichnungen der Lebenswirklichkeit der Hadmarshelle durch Weigand erfolgt mit einer exakten Widergabe des Lebens der Tagelöhner und Kleinbauern Tauberbischofsheims. Die Frankenthaler sprechen den einheimischen Dialekt: „Weigand wird hier fast zum Naturalisten. Er schildert Milieu und Umwelt in einer Detailtreue, er wird sehr genau und ausführlich, und er lässt die Leute nun auch den taubertäler Dialekt sprechen.“ (S. 17)
HDS fasst zusammen, wie wir „Die Frankenthaler“ heute noch lesen können: ein Buch, mit seinen Überarbeitungen zunehmend auf einem Irrweg, bzw. Abweg, aber es hat immer noch seine Reize für einen Tauberfranken die Weigandsche Soziologie einer tauberfränkische Kleinstadt um 1890 nachzuspüren: Heimatgefühl und manchmal auch Heimatduselei, ironisierende Kleinstadtschilderung und aufschönende Romantisierungen, Blut-und-Boden-Phantastereien und Erkenntnis sozialer Problematik fügen sich in diesem Roman Wilhelm Weigands zu einem Dokument wilhelminischer Poesie zusammen, die von Weigand gegen die eigene Zeit geschrieben worden war und ihr doch in so vielem entsprechen sollte. Der Versuch eines Tauberfranken, sein Land aus der Perspektive neuer Gesinnungen zu sehen; ein Irrweg gewiß, aber nicht ohne Reize.“ (S. 19)
Carlheinz Gräter: Anmutigste Tochter des Mains. Ein tauberfränkisches Lesebuch. Frankonia-Buch, Tauberbischofsheim 1986
Dieses tauberfränkische Lesebuch ist mehr als ein Buch über die Tauber, über das Taubertal, das Tauberland, den Taubergrund. Abschnittsweise geordnet, vom Quellgebiet bis zur Mündung in den Main, zieht es die jeweiligen Seitentäler der Tauber mit ein und wird so zu einem wahrhaft tauberfränkischen Lesebuch, denn Tauberfranken als Einheit läßt sich nur persönlich erfahren und wahrnehmen: eine territoriale, staatliche Einheit gab und gibt es nicht, wenn auch der Main-Tauber-Kreis die Tauber als heimliche, offene Achse in sich trägt. Die von Carlheinz Gräter vorgelegte Sammlung ist eine wahre Fundgrube von Autoren, die über Tauberfranken geschrieben haben oder auch aus Tauberfranken stammen. Beim Durchblättern stößt man auf bekannte Namen wie Riehl, Metz, Lommel, die Gesamtüberblicke über Tauberfranken geben, die auch heute noch lesens- und studierenswert sind. Die aktuelle Tourismuswerbung Tauberfrankens bedient sich ja in der Regel nur einiger längst in das Kulturgut eingeschliffener Sätze Riehls. Insofern bietet das Lesebuch dem Leser hier die Möglichkeit umfangreichere, längere Abschnitte dieser historischen Landschafts- und Kulturbeschreibungen Tauberfrankens zu lesen, ohne sich die Originale zu besorgen. Aber nicht nur die bekannten Namen sind in dieser Schatztruhe tauberfränkischer Literatur zu finden. Gräter leitet jeweils die vorgestellten Lesestücke mit einem kleinen Kommentar ein und erleichtert so die historische Orientierung, warum Autor und Abhandlung ausgewählt wurden. Obwohl ca. 370 Seiten stark, hätte man beim Durchlesen noch mehr davon. Das Lesebuch erstaunt immer wieder, wie vielfältig und bunt die Wahrnehmung Tauberfrankens sein kann, die muß nicht immer völlig altbacken und altertümelnd daher kommen.
Reizvoll ist das Hintereinanderlesen von Autoren zum selben Thema wie z. B. Tauberbischofsheim. Nach dem schönen bunten, detailreichen, fast lustvoll ausgeführtem Stadtbild Alfred Schmid Noerrs folgt ein Auszug aus Wilhelm Weigands „Die Frankenthaler“, indem die Frankenthaler Proleten gewalttätig ausschreiten. Es ist allerdings ein Auszug, der nur verständlich wird, wenn man zur vollständigen Ausgabe greift. In der geographischen und geschichtlichen Stadtschilderung Tauberbischofsheims hat man schnell den richtigen Eindruck, dass Weigand an das kleine Tauberbischofsheim noch ein Stück Rothenburg zur Vergrößerung des bescheidenen Stadtradius angeklebt bzw. überformt hat. Im 1889 erschienenen Roman zeigt sich schon früh die Boden und Scholle-Philosophie bzw. Ideologie Weigands gepaart mit landwirtschaftlichen Reformideen. Die Überbetonung der Bodenbindung und Bodenhaftung des Menschens erschließt schon im Erstlingswerk Weigands den später vollzogenen Schritt zum Nationalsozialismus und heftigen Antisemitismus. Den antisemitischen Weigand zu Lesen ist eine echte Einöde, während „Die Frankenthaler“ einer näheren Analyse würdig sind. Zurecht ist dieser Literat heute vergessen, was seine antisemitischen, völkischen Werke, Ansichten betrifft, zu Unrecht längst vergessen, zu selten gelesen, selbst in Tauberbischofsheim, was seine Werke mit Regionalbezug angeht. Mit dem Frankenthaler wurden wir recht lange nicht warm, da Weigand in Kenntnis seiner antisemitischen Ausfälle gelesen wurde. „Die Frankenthaler“ können aber von dem Interesse her studiert werden, welches munteres Puzzle tauberfränkischer Zutaten und Teile Weigand in seinem Portrait der Frankenthaler vorgenommen hat. Im jungen Doktor Joseph Merkel lässt sich biographisch vielfach übereinstimmend Wilhelm Weigand selbst erkennen. Auch ergibt das von Weigand beschriebene soziale Bild „Frankenthals“ die Chance, Tauberbischofsheim im Status der Provinzialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts kennen zulernen. Der Einbruch der Industrialisierung in Frankenthal, den Weigand mit dem Betrieb einer Papierfabrik, angesiedelt auf der rechten Tauberwiesenseite, ankündigte, und der kleine Bauern nach Frankenthal anzog, die in der Fabrik arbeiteten und im Arme-Leute-Viertel der Stadt wohnten, hier als Hadmarshelle bezeichnet, hat realiterweise zu dieser Zeit noch gar nicht stattgefunden und importiert Weigands negative Erfahrungen mit Großstädten, die für ihn das elementare Gegenbild zur erlebten ländlichen Naturverbundenheit sind. Weigand hat zudem ein Sitten- bzw. Unsittenbild einer historischen Kleinstadt geliefert, die von einem gesellschaftlichen Umbruch betroffen ist.
Erinnerung an Wilhelm Weigand
- zum 60. Todestage und zur Neuauflage einiger seiner Werke
Wilhelm Weigand ist der erste bedeutende Schriftsteller Tauberfrankens, des badischen Frankenlandes, mit literarischen Einbezug Mainfrankens. Mit dem 1889 veröffentlichten Erstlingswerk „Die Frankenthaler“ legte Weigand ein auch heute noch lesens- und beachtenswertes Buch der Heimatkunst, der Regionalkultur vor. In weiteren Werken, z. B. mit der Novellensammlung „Weinland“, unterstrich Weigand seine regionale Herkunft bzw. sein umfangreiches regionalgeschichtliches Wissen, das er oft auch verfremdet in seine Arbeiten einfließen ließ. Die heimatkundliche Seite Weigands ist auch seine interessanteste, sein Blut und Boden, sein antisemitisches Denken die problematische, nicht verschweigbare, seine an der französischen Romantik und italienischen Renaissance orientierte seine intellektuellste. Wir wollen den inzwischen weitgehend vergessenen Literaten Weigand vornehmlich auf seine regionalgeschichtliche Bedeutung hin neu vermessen und in einer regioliterarischen SpurenSuche darstellen.
Weigands Werdegang zu einem bedeutenden Dichter ist erstaunlich und war ihm nicht in die Wiege gelegt. In (kleinen) landwirtschaftlichen Verhältnissen geboren, der Vater früh gestorben, von der Mutter getrennt aufgewachsen und von der Großmutter erzogen, blieb für ihn die ländlich-bäuerliche Herkunft bestimmend für sein Werken, obwohl er sich nach dem Studium in Brüssel, Paris und Berlin 1889 sein weiteres Leben lang in München niederließ. Wenn auch in der damals noch sehr ländlich geprägten Umgebung von Bogenhausen, in dem er in einem der damals „modernen“ neu erbauten Landhäuser einzog. In vielen seiner Werke strahlt die erlebte Ländlichkeit seiner Herkunft hinein und auch heraus, wenn auch in einer sehr verklärt erscheinenden Form der Naturbeschreibung: Es duften die Wiesen, die Wälder, alles erscheint saftig, bunt, farbig, dicht, geladen, heil. In seinen Beschreibungen der Menschen des ländlichen Raumes seiner Herkunftsregion wird Weigand schon wesentlich deutlicher, direkter. Neben heftigen, deftigen Negativzeichnungen von Charakterzügen (die Spießbürger glotzten mit Augen wie ihre Ochsen, hatten Mostschädel, waren Philister, war ein Halbtier, waren dem Trunke verfallen usw.) treten immer wieder Frauengestalten auf, die in ihrer Ländlichkeit eine Reinheit der Erscheinung verströmen und von Weigand mit dem Weichzeichner abgebildet werden. Reine Frauenbilder als idealisierende Wunschbilder ländlicher Frauen! Wohl nicht zufällig stammt auch seine zweite Frau Emilie aus dem ländlichen Raum, aus dem Tauberfranken benachbarten Dörzbach an der Jagst.
Weigand ist ein Provinzler, der sich seiner provinziellen Herkunft immer bewusst war und sich eine eigene literarische Provinz der Vergangenheitsbezogenheit schaffte. Die Region Tauberfrankens fand immer wieder in seinen Werken Einzug: als Handlungsraum, mit Namens- und Ortsbezügen, mit der Einarbeitung historischer Geschehnisse. Vergangenheit und Gegenwart fließen bei Weigand ineinander und der Adel als der von Weigand bevorzugte Teil des ländlichen Raumes spielt in den Novellen und Erzählungen Weigands immer wieder eine wichtigere Rolle, als er es jemals in Tauberfranken getan hatte.
Die ersten Würdigungen des Badischen Frankenlandes erhielt Weigand durch den aus Boxberg stammenden Karl Hofmann, der in seiner Tauberbischofsheimer Gymnasiastenzeit Weigand als Musiklehrer hatte. Desweiteren durch Emil Baader (1924), durch Friedrich Alfred Schmid Noerr. Der Gissigheimer Ortspfarrer Franz Gehrig war einer der ersten, die nach einer langen Zeit der Vergessenheit wiederum an Wilhelm Weigand erinnerten. Gehrig verschwieg nicht, dass bei Weigand Gedanken von Blut und Boden anzutreffen waren, bleibt aber diesbezüglich bei eher vorsichtigen Einschätzungen und Formulierungen. Hier steht Gehrig als katholischer Pfarrer von Gissigheim in der Zwickmühle an den großen Sohn der Gemeinde zu erinnern, andererseits auch wahrzunehmen, dass im badischen Frankenland die katholische Kirche Widerstand gegen die Gedanken des Nationalsozialismus leistete, denen Weigand vielfach sehr nahestand. Es ist die schwierige, widersprüchliche Position der Gemeinde, der Region, der an der regionalen Geschichte und Literatur Tauber-Frankens Interessierten, sich an eine der bedeutendsten literarischen Persönlichkeiten der Region zu erinnern, dem schriftstellerischen Lebenswerk Weigands gerecht zu werden, aber auch sein völkisches, antisemitisches Denken und Schreiben, seine Blut und Boden Philosophie nicht auszublenden, sondern bewusst zu reflektieren und kritisch darzustellen.
Eine regionale Würdigung, unter der Nichtberücksichtigung, Nichterwähnung des Weigandschen Antisemitismus, volksgemeinschaftlichen Blut und Boden Denkens, leistete Hans Dieter Schmidt mit der Betrachtung „Eine Grabkapelle als Dichterstätte“ in Carlheinz Gräter / Hans Dieter Schmidt: „… muß in Dichters Lande gehen“, München 1989, Seite 178 – 182, ebenso Bruno Rottenbach in der „Tauberfränkischen Schatztruhe“, S. 226-227.
In der Presse war von Gedanken zu lesen, eine Gesamtausgabe der Werke Weigands zu veröffentlichen und eine Heimatstube zur Präsentation der Werke und des Lebens Weigands in Gissigheim einzurichten. Angesichts der umfangreichen, ausufernden Publizierungen Weigands würde dieses Vorhaben wohl jeden Verlag oder Verleger finanziell in die Knie zwingen, bei einer zudem erheblichen editorischen Aufgabe, da die volksgemeinschaftliche Wende Weigands nach dem ersten Weltkrieg, seine antisemitischen Ausfälle nicht unkommentiert bleiben können. Wie könnte man einen Roman wie “Die Rote Flut” wieder neu auflegen wollen? Wie wollte man die verschiedenen Überarbeitungen des Romans “Die Frankenthaler” berücksichtigen? Aufgrund der Seltenheit der 1. bzw. 2. Auflage der Frankenthaler bzw. 3. Auflage, wäre eine Neuauflage dieser Ausgaben wünschenswert.
Wilhelm Weigand ist auch nach Jahren der Beschäftigung mit ihm, seiner Person, seinem umfangreichen Werk ein Rätsel. Ungeklärtes umwallt diesen interessanten Mann, den ersten Intellektuellen Tauber-Frankens, aus Gissigheim stammend, aus einem alten Bauerngeschlecht. Seine Autobiographie setzt erst mit dem Umzug von Berlin nach München ein, 1889. Dem Jahr, als er mit dem Roman „Die Frankenthaler“ als Autor Aufmerksamkeit erlangte, wenn er auch nie die Rühmung erreichte, die er für sich ersehnte.
Seine Dramen, selten gespielt, heute vergessen. Seine Gedichte, oft konventionell, untergegangen. Seine Romane, einige (alt)fränkisch, nach 1949 nie mehr aufgelegt. Seine Novellen, zahlreich, ebenso wenig nach 1949 neu verlegt. Seine Essays, die wahre, auch heute noch lesbare intellektuelle Stärke Weigands, perdu. Seine Herausgaben, vor allem französischer Autoren, verdienstvoll, erinnerungswürdig, leider nur noch mit drei Neuherausgaben nach 1949 fortgesetzt.
Wir wissen kaum etwas über die Jugend Weigands, seine Schülerzeit, seine Studentenjahre, über seine unbefriedigenden Jahre als Lehrer, u. a. in Tauberbischofsheim und als Hauslehrer. Ein entscheidender Bruch kennzeichnet das Leben und Schaffen Wilhelm Weigands: das Ende des 1. Weltkrieges und die Erfahrung der Münchener Räterepublik. Weigand schreibt über diese Revolutionserfahrung ein oft mehr als übles Machwerk, antisemitisch grundiert, mit trivialsten Charakterbeschreibungen. Ein Feingeist stürzt völlig ab, ein Feingeist, der einen frühen Essay über Nietzsche 1893 noch ohne Annäherung an den Übermenschenpathos abliefern konnte. Nun nistet sich völkisches Denken in den Werken Weigands ein. Volk ohne Raum, Schaffung einer Volksgemeinschaft, das banalisiert die früher exzellente, wenn auch oft aristokratisch gesinnte Gedankenwelt Weigands.
Sein damaliger Verlag setzt deshalb die lang andauernde Zusammenarbeit mit ihm als Herausgeber und Autor nicht mehr fort, sein Vermögen rafft die Inflation hinweg. Weigand widmet sich der Bodenfrage, im Blut und Boden Stil, Neubearbeitungen des Frankenthalers reihen sich in eine Bodentriologie ein, Weigand hofft auf die Hitlerbewegung. Für seine Person nicht umsonst. Als ideologischer Wegbereiter des 3. Reiches wird er mehrfach geehrt, von den US-Amerikanern deswegen aus seiner Bogenhausener Villa im Landhausstil vertrieben. Am 20. Dezember 1949 stirbt Weigand, wird in Gissigheim in seiner Grabkapellengruft begraben. Vergessenheit machte sich langjährig breit.
Der Eintrag in Wikipedia über Wilhelm Weigand verstärkt nur das Unklare über ihn, nur ein paar dürre Zeilen, die unvollständige Bibliographie seiner Werke, immerhin noch ein paar brauchbare Weblinks mit weiterführender Diskussion. Der literarische Archivar des Bodenseeraumes, Manfred Bosch, hat 1988 und 1996 Weigand kritisch beleuchtet, ebenso Wolfgang Seidenspinner 2004.
Tauberfränkische Autoren wie Carlheinz Gräter, Hans-Dieter Schmidt, Heinz Bischof und Bruno Rottenbach widmeten sich in Aufsätzen dem Werk Wilhelm Weigands. Auf www.traumaland.de erfolgte eine regioliterarische Spurensuche 2007, mit ausführlichen Besprechungen seiner Werke mit tauberfränkischem Regionalbezug. Für die tauberfränkische Literatur ist Weigand immer wieder eine Herausforderung, ein Grund sich mit ihm, seinen Büchern und Lebensbrüchen auseinanderzusetzen. Der Gissigheimer Ortspfarrer Franz Gehrig, in seiner Gissigheimer Ortschronik 1969 auf Weigand ausführlich eingehend, wünschte sich eine Neuauflage des Gesamtwerkes und eine Heimatstube zu Wilhelm Weigand. Doch lange geschah wenig, eher nichts.
Was Google mit seiner Bücherdigitalisierung versucht, kann Bibliobazaar und Amazon auch, wenn auch als vertreib- und bepreisbare Printreproduktionen. Werke von Wilhelm Weigand werden nach langer Zeit 2009 erstmals wieder neu aufgelegt. Die Reihe Bibliolife ermöglicht es, dass alte Bücher, seltene, schwer erlangbare, wieder reproduziert werden. Teilweise auch vergrößert, was nicht ohne Verluste geht! Bei der über Scanner realisierten Vergrößerung verschwindet vielfach der Umlaut, Worte werden verändert, Eingeschreibsel wird mit abgebildet, Gedichtverse und Zeilen werden damit gelegentlich unverständlich, oft gar peinlich, denn wenn aus „schwül“ „schwul“ wird, wird die Lyrik hingerichtet.
Waren die Originalausgaben noch ein bibliophiles Vergnügen, mit einem harten Einband, so gibt es nun Paperbacks, die billig aussehen, aber preislich nicht billig sind. Antiquariatspreise schlagen noch die der Nachbildungen. Eine Editionsgeschichte gibt es nicht. Keine Information darüber, warum Werke Wilhelm Weigands, warum diese Bände wieder aufgelegt werden.
Es gibt seltener erhältliche: „Die Frankenthaler“ (1. Auflage 1889), „Gedichte“ (1889), „Im Exil. Novellen“ (1890), „Essays“ (1891), „Rügelieder“ (1893), „Friedrich Nietzsche. Ein psychologischer Versuch“ (1893), „Das Elend der Kritik“ (1894), beispielsweise. Die Reihe Bibliolife startet dagegen mit den Gedichtbänden Sommer: „Neue Gedichte“ (1894) und „Der verschlossene Garten. Gedichte aus den Jahren 1901-1909“ (1909) sowie der Novellensammlung „Der Ring“ (1913), hier allerdings in der überarbeiteten Ausgabe des Georg Müller Verlages von 1921.
Eine weitere Weigand-Reproduktion, „Cesar Borgia“, einem Teilstück aus dem Dramenzyklus „Die Renaissance“, liefert der US-amerikanische Verlag Kessinger Pub Co, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Amazon. Das deutsche Urheberrecht reicht 70 Jahre lang, nach dem Tode des Verfassers, Weigand ist am 20. Dezember 1949 gestorben, das ist erst 60 Jahre her. Das erklärt wohl noch nicht diese neue Publikationswelle nach langen Jahren des Vergessenseins.
Leider findet der an der tauberfränkischen Region Interessierte in den beiden Gedichtsbänden Weigands wenig über die Herkunftsregion des Dichters, ein Gedicht über eine fränkische Kleinstadt, über Gedanken beim Trinken fränkischen Weines, Erinnerungen an einen Schulkollegen, Bekenntnisse, schon seit der Kindheit sich zum Dichten hingezogen gefühlt zu haben. Viel Naturdichtungen, Gefühle beim Sein im eigenen Garten, Liebesgedichte für seine Frau Thora, Trauerlyrik wegen des Verlustes seiner Frau, Gedanken über die eigene Stellung als Dichter, Reflektionen über seine eigenen Sturm und Drang Jahre, Widmungsverse an seine literarische Helden Montaigne, Rabelais, Percy Bysshe Shelley, an Zeitgenossen wie Richard Dehmel, Otto Julius Bierbaum.
Mehrere Novellen („Der böse Blick“, „Die eine Hexe“, „Haydie“) im „Ring“ handeln in unserer Region, wenn auch in der Weigand eignen Form von Historismus, in einer besonderen Mixtur historischer Angaben, in einer sehr strapazierten Art Landadel in unserer Region zu kreieren. Dazu bediente sich Weigand der historischen Lokalforschung, z. B. Julius Berberichs Tauberbischofsheimer Stadtgeschichte von 1895, deren Funde in einen literarischen Kontext eingebunden werden. Frage ist, warum wandte sich Weigand nach 1900 wieder verstärkt der regionalen Geschichte, ländlichen Stoffen zu? Weigand betont, angeregt durch Nietzsches Götterdämmerung, der Forderung „Zurück zur Natur“ nachzukommen. In seinen Essays war Weigand in der Betrachtung der Schriften von Rousseau, dessen Aufforderung „Zurück zur Natur“ ebenfalls begegnet. Den Rousseau’schen Imperativ gegenüber dem Gekünstelten nahm Weigand durchaus auf, zurück zur Natur, das war ein Zurück zur Region, zur Regionsgeschichte, zum Ländlichen, zum Bäuerlichen, nachvollziehbar in der Auswahl seiner Themen, in der Neubearbeitung des Frankenthalers, zeitlich gesehen in der Schaffenszeit Weigands von 1900 bis 1918. Im Zurück zum Ländlichen war ein Zurück zum Landadel bei Weigand inbegriffen. Das klassenverräterische Moment, die Zuflucht zum Landadel, spielt bei Weigand eine große Rolle, den Bauern wird zwar die Bodenbearbeitung, die Bindung zum Boden zugeschrieben, Weigand sah aber auch die Stagnation des ländlichen Raumes seiner Zeit, die Provinzialisierung seiner Herkunftsregion, die Befreiung aus dieser gesellschaftlich-wirtschaftlichen Randstellung traute er allerdings nur dem Landadel zu, der landwirtschaftliche Mustergüter einführen solle, um die landwirtschaftliche Produktivität zu heben. Gegenüber dem mehr historisch-versatzstücktem Ring gefällt die Novellenbündelung „Weinland“ viel besser, da Weigand in den Novellen „Michael Schönherrs Liebesfrühling“, „Das Abenteuer des Dekan Schreck“ und „Der Messiaszüchter“ mehr tauberfränkische Realgeschichte zwischen 1880 und 1900 streift.
Nach 1918 kippten diese landreformerischen Ideen Weigands in das völkische, rassisch Gedachte, um. Volk ohne Raum, Urbar machen von Ödland, Hebung der landwirtschaftlichen Produktivität im Konkurrenzkampf mit anderen Nationen (wie England) sind nun Weigands Themen. Und das ausgerechnet im tauberfränkischen Raum, der nach dem Niedergang des Weinbaus an den Hanglagen im Überschuß extensiv bzw. aufgegebene Flächen aufwies, der Sukzession unterlag. Die Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus begrüßt Weigand, sein anfänglicher kritischer Ästhetizismus scheint im hohen Lebensalter vergangen zu sein. Der Abstieg Weigands zum oft primitiven Rassisten war mit Sicherheit nicht vorgezeichnet, ist aber durchaus an den weit reichenden Überarbeitungen des Frankenthalers ablesbar, besonders in den Romanen „Die rote Flut“ und „Helmhausen“ und in seiner Autobiografie.
Die neu erhältlichen Bände sind nicht unbedingt die beste Auswahl als Neueinführung in das Werk Weigands, um das Interesse an ihm wieder zu wecken. Ob Weigands neu aufgelegte Werke wieder gelesen, wieder beachtet werden?